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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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Patienten. Mit zwölf Jahren hatte Julien Daumas zusehen müssen, wie ein Mann seine Mutter ermordete. Dieser Mann war ihr Nachbar, ein alltäglicher, etwas kauziger Typ, dem jeder aus dem Weg ging. Julien hatte miterleben müssen, wie dieser Mann seine Mutter erstach, die auf dem Treppenabsatz des fünften Stockwerks mit ausgestochenen Augen tot zusammenbrach.
    Das Gesicht des Angreifers hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Als seine Großeltern väterlicherseits ihn abgeholt hatten, erzählten sie ihm, der Mörder sei in eine Anstalt gebracht worden. Einige Zeit später las er in einer Zeitung, der Mörder sei für unzurechnungsfähig erklärt worden und befände sich in der psychiatrischen Abteilung der Klinik Sainte-Marguerite.
    Am Morgen seines achtzehnten Geburtstags war Julien, der sich zu einem Surffan und begeisterten Fotografen entwickelt hatte, verschwunden. Er war seinen eigenen Weg gegangen, bis zu dem Tag zwei Jahre später, als er auf der Durchreise durch Marseille aus einer Laune heraus bei der Leitung der Klinik Sainte-Marguerite um die Genehmigung gebeten hatte, für einen Zeitungsartikel über die psychiatrischen Einrichtungen in Frankreich Fotos machen zu dürfen. Es hatte geklappt. Julien hatte Porträts von Patienten aufgenommen, darunter vom Mörder seiner Mutter.
    Von diesem Augenblick an hatte er nicht mehr schlafen können. Albträume quälten ihn jede Nacht, und er durchlebte derartig grauenvolle Szenen, dass er morgens todmüde aufwachte. Er hatte stark abgenommen und damit angefangen, zu rauchen und zu trinken, und er hatte immer mehr Beruhigungsmittel gebraucht, um schlafen zu können.
    Dann war er eines Tages unter dem Vorwand, seine Reportage beenden zu wollen, in die Klinik zurückgekehrt. Zusätzlich zu seiner Fotoausrüstung trug er eine Sporttasche unter dem Arm. Inzwischen achtete niemand mehr auf ihn. Jean-Claude G. war wegen guter Führung und positiven Therapieverlaufs in die offene Abteilung verlegt worden, wo er täglich Besuch empfangen durfte. Es war für Julien ein Leichtes gewesen, in sein Zimmer zu gelangen. Er hatte seinem ehemaligen Nachbarn alte Kleidung von sich angeboten. Eine Jogginghose und einen abgetragenen Pullover mit Kapuze. Der Mann hatte alles sofort anprobiert. In der Klinik herrschte wegen Umbauarbeiten und Streiks großes Durcheinander. Es war ein Kinderspiel, mit dem Patienten über eine der Baustellen zu verschwinden.
    Julien umklammerte das Messer in seiner Tasche. Das Gericht hatte den Mann für nicht schuldfähig erklärt. Für ihn war er schuldig.
    Das Messer stieß einmal ins Herz, dann zweimal in die Augen.
    Cyrille kam wieder zu sich.
    Sie begriff, was sie vor zehn Jahren getan hatte, als Julien ihr sein Geheimnis anvertraute. Er hatte ihr alles gestanden. Sie war die Einzige, die es wusste.
    Also hatte sie den Entschluss gefasst, Julien Daumas in die geheime klinische Meseratrol-Studie aufzunehmen, damit er sein Verbrechen vergessen und sich der Verfolgung durch die Justiz entziehen konnte.
    Völlig aus der Fassung gebracht, blieb sie benommen sitzen.
    Cyrille betrachtete Julien, seine Arme, seinen Oberkörper, seinen Hals, sein Gesicht, seine Wimpern. Sie stellte sich den kleinen Jungen vor, den seine tragische Vergangenheit dazu getrieben hatte, etwas Nichtwiedergutzumachendes zu tun.
    Wenn diese Sünde in seinem Unterbewusstsein blieb, konnte er sich retten.
    Das war ihre Überlegung gewesen.
    Sie war zu dem Schluss gekommen, sein Leben sei mehr wert als die Gerechtigkeit für Jean-Claude G.
    Und nun stand sie vor derselben Entscheidung, denselben Fragen, demselben Dilemma.
    Der Boden schwankte unter ihren Füßen, bittere Galle hinterließ einen üblen Geschmack in ihrem Mund. Würde sie die Stimulation abbrechen, hätte Julien eine Chance, es zu schaffen. Sonst …
    Aufhören oder weitermachen. Unschuld oder Schuld.
    Den Dingen ihren Lauf lassen oder eingreifen.
    Sich erinnern oder vergessen.
    Julien stöhnte. Irgendetwas geschah.
    »Ich erinnere mich, ich war in Marseille … ich sehe ein Krankenhaus. Wo bin ich?«
    Cyrille trat vor, sie war unfähig zu sprechen.
    »Ich habe meine Fototasche bei mir. Was tue ich dort?«
    War es ihre Aufgabe, die Absolution zu erteilen?
    »Don’t move!«, riefen mehrere Männer.

52
     
    Zwei Milizsoldaten drangen mit gezogener Waffe in den MRT-Raum ein.
    Im Zeitlupentempo ließ Cyrille die Sonde sinken und drückte Juliens Arm, damit er sich aufrichtete. Einer der beiden Uniformierten lief hinter
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