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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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hatte das Foto seiner Mutter vor Augen, aber sein Blick war nach innen gerichtet. Cyrille hätte ihn gern in die Arme geschlossen, um ihn zu schützen.
    Genau in diesem Moment schoss ein Blitz durch ihr Gehirn, Bilder prasselten auf sie ein. Sie krümmte sich und schloss die Augen. Es war wie gerade eben, als sie auf dem Tisch gelegen hatte, aber es geschah ohne Stimulation.
    Ich stehe oberhalb des Meeres sicher auf einem Felsen. Es ist kalt, zu meinen Füßen erstreckt sich das Mittelmeer. Ich bin in der Bucht von Morgiou. Ein Mann begleitet mich.
    Die Augen aufgerissenen, zuckte die Ärztin zusammen. Sie hatte sich soeben an einem anderen Ort befunden, als habe ein anderer Raum, eine andere Zeit von ihr Besitz ergriffen. Die Stimulation war offenbar so stark und so lang gewesen, dass auch ohne äußere Einwirkung andere Gedächtniskreise aktiviert wurden. Sie verscheuchte das unpassende Bild aus ihren Gedanken. Julien hatte sich beruhigt, sein Körper zuckte nicht mehr.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.
    »Ich habe die Wohnung in Marseille gesehen. Das ist alles. Weiter nichts.«
    Sie platzierte die Sonde über einem anderen Gehirnbereich und betätigte das Gerät. Doch plötzlich hielt sie inne, stützte sich auf den Untersuchungstisch und schloss die Augen. Ein neuer Flashback.
    Das Meer zu unseren Füßen trägt weiße Schaumkronen, der Hang fällt steil zu dem blauen und tiefen Wasser ab. Ich schwitze in dem eisigen Mistral. Der Mann neben mir ist gefesselt. Ich habe seine Hände und Füße zusammengebunden. Er liegt am Boden, ich schaue ihn an.
    Cyrille schlug die Hand vors Gesicht. Sie wurde von einer Vision heimgesucht. Sie platzierte die Sonde in Höhe des linken Temporallappens von Julien und schickte sich an, das Magnetfeld erneut einzuschalten.
    »Was ist mit dir?«
    »Seit ein paar Minuten kommen mir immer wieder bruchstückhafte Erinnerungen. Es ist verrückt. Vor meinen Augen spielen sich Szenen ab, die ich nicht kontrollieren kann. Vielleicht sind es falsche Erinnerungen. Es wird schon vorbeigehen, wenn meine Neuronen sich wieder beruhigt haben.«
    Sie aktivierte die Sonde und konzentrierte sich erneut auf Julien, der auch jetzt nicht stärker zu reagieren schien.
    »Passiert nichts?«
    »Nein, nichts«, antwortete der junge Mann.
    Cyrille drehte die Sonde, um sie auf einen anderen Sektor des Gehirns zu lenken.
    »Und jetzt?«
    »Ni … ooooh.«
    Julien warf den Kopf zurück und biss sich die Unterlippe blutig.
    »Neiiiiiin.«
    »Was siehst du?«
    »Neiiiiiin.«
    »Julien, antworte, Julien.«
    »… lassen Sie sie los, Maman, Maman, lassen Sie sie!«
    Es war nicht mehr seine Stimme, sondern die eines vor Entsetzen schreienden Kindes.
    »Neiiiiiiin. Nicht … Bitte …«
    Es war schlimmer als die Realität, denn er konnte nicht handeln. Er war ein machtloser Zuschauer. Er begann zu weinen. Cyrille klammerte sich verzweifelt an das Gerät. Diesem Kind war Unerträgliches widerfahren. Und nun zwang man den Mann, alles noch einmal zu durchleben. War es zu seinem Besten? Sie begann, an ihrer Entscheidung zu zweifeln, und beendete die Stimulation. Julien sank auf den Tisch zurück.
    »Er hat sie umgebracht. Die Augen … Deshalb habe ich diesen Zwang, Cyrille, das ist der Grund …«
    Einen Moment schwieg er.
    »Ich will ihr Gesicht sehen.«
    »Bist du sicher?«, fragte Cyrille mit Nachdruck. »Ich denke, es reicht jetzt, oder?«
    »Nein.«
    Cyrille wollte noch etwas hinzufügen, aber ein erneuter Flashback, wenn auch weniger heftig als der vorherige, zwang sie zu einer Unterbrechung.
    Ich habe den Mann in die Bucht geschleppt, ich habe ihn angebunden. Nun hole ich mein Austernmesser heraus, so eines, wie er es bei Maman benützt hat, und ich stoße zu, stoße immer wieder zu. Bis das Blut aus seinem Körper spritzt, aus seinem Mund, seinen Augen.
    Unvermittelt kam Cyrille wieder zu sich. Wie in Zeitlupe betrachtete sie Julien Daumas von Kopf bis Fuß. Kann das möglich sein?
    Es waren nicht ihre eigenen Erinnerungen, die sie reaktiviert hatte, sondern das Geständnis dieses jungen Mannes. Es war das Schlimmste, was er ihr am Ende der Therapie anvertraut hatte. Sie presste beide Hände auf den Mund und sank auf einen Plastikhocker. Unvermittelt verzog sich die dunkle Wolke, hinter der ihre Erinnerungen seit zehn Jahren verborgen gewesen waren.
    Die Puzzleteile fügten sich perfekt zusammen, und das ganze Grauen trat ihr klar vor Augen. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an den Bericht ihres
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