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Begegnung in Tiflis

Begegnung in Tiflis

Titel: Begegnung in Tiflis
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schlafe er, und um seinen Mund lag ein Lächeln.
    Es ist sinnlos, vor seinem Schicksal wegzurennen … es läuft einem hinterher …
    Bettina Wolter riß Irene Heidfeld ins Freie. Dort standen jetzt Feuerwehr und Krankenwagen. Sanitäter zerrten die noch Angeschnallten ins Freie oder sammelten aus den Maulbeerbüschen die Körper, die hinausgeschleudert worden waren oder mit letzter Kraft flüchteten. Über vier brennende Menschen, die brüllend durchs Gras krochen, warf man Decken und erstickte die Flammen. Aus den Feuerwehrwagen zischten die Schaumlöscher und Übergossen den zerborstenen Rumpf wie mit Schnee. Neue Krankenwagen jagten heran, Milizsoldaten sperrten in weitem Umkreis die Absturzstelle ab, ein Mann in einer goldbetreßten Uniform schrie Kommandos – es war General Oronitse –, und vier Männer zerrten aus der Kanzel den schlaffen Körper Pohlmanns, der fast nackt war und wie mit Blut lackiert.
    Bettina schwankte inmitten der rettenden Menschenmenge, jemand sprach sie an, sie gab keine Antwort, man nahm ihr den blutüberströmten Körper Irenes ab, legte ihn auf eine Segeltuchtrage; irgendwo zischte es, die Wagensirenen heulten und rasten vom Flugzeug weg, sie sah Menschen wie um ihr Leben rennen und begann selbst zu laufen, irgendwohin, nur weg von dem brennenden Wrack.
    Und dann kam die Explosion. Die Tanks mit dem hochexplosiven Benzin sprangen auf, der Druck warf Bettina in die Maulbeerbäume, sie fiel auf das Gesicht, krallte die Finger in die weiche Erde und verlor die Besinnung.
    Sie erwachte von einer angenehmen Kühle. Lange mußte sie nicht gelegen haben, denn das Flugzeugwrack brannte noch immer, jetzt durch die Explosion bizarr zerrissen wie eine moderne Plastik. Die Krankenwagen und die Feuerwehren waren wieder so nahe wie möglich heran, aber es war sinnlos, etwas zu unternehmen. Die Glut schien so stark, daß selbst die Männer in den Asbestanzügen und hitzeabweisenden Folien – wie Marsmenschen sahen sie aus – nicht mehr näher als einen Steinwurf an das Flugzeug herankonnten.
    Bettina kniete auf der Erde und sah noch einmal auf den glühenden Haufen von Metall, Glas und Holz.
    Ich lebe, dachte sie nur. Ich lebe, Mutter. Ich lebe.
    Aber wie werde ich leben.
    Es ist das eingetroffen, was nie kommen durfte: Ich bin in Rußland. Ich bin in einem Land, das ich nie betreten durfte. Ich lebe … aber ich habe von dieser Stunde an tot zu sein.
    Während die Feuerwehren versuchten, die höllische Glut des Metalls einzudämmen, und während die letzten Krankenwagen über das Feld rasten zum Grusinischen Krankenhaus Nr. I, kroch Bettina ein Stück durch die Maulbeerschonung, erhob sich dann und rannte geduckt, wie ein flüchtendes Wild, in einer kleinen Talsenke davon. Nach hundert Metern blieb sie noch einmal stehen, sah zurück und nahm endgültig Abschied von dem brennenden Wrack, in dem auch das Leben der Stewardeß Bettina Wolter zurückblieb.
    Dann wandte sie sich ab und lief, so schnell es ihre zitternden Beine vermochten, der dunklen Wand entgegen, die den Himmel in der Ferne teilte.
    Das Gebirge. Der Kaukasus. Die Schluchten und Felsen, aus denen einst die heilige Schuschanik herunterstieg, um in Tiflis den Märtyrertod zu sterben.
    Und niemand um das brennende Flugzeug herum bemerkte die schmale Mädchengestalt, die in den weiten Plantagen verschwand. Auch nicht General Oronitse, der rußgeschwärzt noch immer ausharrte und Befehle gab. Auch er sah das Mädchen nicht.
    Das war ein Fehler, denn mit dieser Nacht begann ein unruhiges Leben für Fjodor Nikolajewitsch.
    *
    Gegen 10 Uhr vormittags sah man endlich klar.
    Die Toten und Verletzten waren vollzählig zusammen. Die Toten – neunzehn Männer und Frauen – lagen im Keller des Grusinischen Krankenhauses Nr. I, im Kühlraum 4, um genau zu sein, und wurden eingefroren, denn nun begann ein langes Verfahren mit Untersuchungen, Identifizierungen, diplomatischen Noten und Überführungen in verlöteten Zinksärgen an die Heimatorte der Toten. Die Verletzten – vierundzwanzig – lagen zwei Stockwerke höher in sauberen weißen Betten, unter Sauerstoffzelten, an Blutplasmaflaschen, zwei sogar an künstlichen Nieren. Professor Klimenti Kusmanowitsch Semlakow, der Chef des Krankenhauses, hatte eine kurze, aber klare Besprechung mit seinen Ärzten gehalten.
    »Genossen!« hatte er gesagt. »Ab morgen blickt die Welt nach Tiflis! Vor allem die kapitalistische Welt, denn alle Verletzten kommen aus den westlichen Ländern. Wir haben
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