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Begegnung in Tiflis

Begegnung in Tiflis

Titel: Begegnung in Tiflis
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Fußtritten weggetrieben hatte, und nicht wie ein Mensch, der mit seinem Leben um seine Freiheit gekämpft und sie endlich erreicht hatte.
    »Komm, Vater«, sagte Wolfgang Wolter und legte den Arm um die Schulter des Alten, als Kolka auf die Rheinstraße trat und sich umschaute, als blicke er geblendet in die grelle Sonne. »Komm. Wir warten alle auf dich. Mein Gott, haben wir Angst gehabt.«
    »Angst? Um mich? Warum?«
    »Du weißt nicht, in welcher Gefahr du warst.«
    »Dort oben?« Kolka sah zurück auf den Weg und die hohen Büsche und Bäume, hinter denen sich das weiße Haus undeutlich abhob. »Ihr verkennt sie alle. Sie sind nicht gefährlich. Sie sind nur Fachleute im Zerreißen von Seelen.«
    In sich versunken, mit hängendem Kopf, saß Karl Wolter hinten im Wagen, als Wolfgang zurück nach Bonn fuhr. Alle waren in der kleinen Wohnung versammelt, als sie eintraten, und Agnes lief mit einem Aufschrei der Erleichterung auf ihren Mann zu und umarmte ihn.
    Über ihren Kopf hinweg sah Wolter mit großen Augen Dimitri an. Er erwiderte seinen Blick, und Dimitri wußte, was geschehen war.
    »Nun bist du ganz hier, Söhnchen«, sagte Wolter auf russisch. »Die Welt hört wenige Werst östlich von hier für uns auf.«
    Dimitri nickte. Um seine schönen dunklen Augen legte sich ein Schleier. »Ich kann nie mehr zurück?« fragte er leise.
    »Nie mehr, Dimitri.«
    »Sie haben mich verstoßen?«
    »Ein Staatenloser bist du. Man wird dir eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland geben, du darfst hier arbeiten, du darfst hier Steuern zahlen, sogar heiraten darfst du und Kinder bekommen – aber du wirst nie mehr ein Vaterland haben.«
    »Ich habe es im Herzen, Väterchen«, sagte Dimitri heiser. »Im Herzen stirbt Rußland nie.«
    Karl Wolter nickte. Er empfand es auch so. Ein merkwürdiges Gefühl war es, nicht zu erklären und nicht zu verstehen für den, der nicht sein Leben geführt hatte: Er stand auf dem Boden seiner Heimat, und er träumte von den Weinhängen in Tiflis. Er war ein doppelter Mensch, und er konnte sich mit sich selbst unterhalten: Hör mal, Karl Wolter, sagte dann Kolka Iwanowitsch. Und Karl Wolter antwortete: Ich höre, Kolka Iwanowitsch.
    Wer von uns kann so etwas?
    Und Wolter begriff plötzlich, daß dies ein Leben war, das man wunderbar nennen konnte.
    *
    Kurz vor Weihnachten war die große Hochzeit im Hause Wolter. Dimitri und Bettina und Wolfgang und Irene unterschrieben vor dem Standesbeamten die Heiratsurkunde und knieten nebeneinander in der Kirche. Für Dimitri war es ein besonders anstrengender Tag, denn er heiratete gleich dreimal: Nachdem sie die Kirche verlassen und in einer Hochzeitskutsche mit Schimmeln davor nach Hause gefahren waren, wartete im Hause Wolter ein emigrierter Pope, den die Vereinigung russischer Emigranten in Frankfurt zu dieser Feierlichkeit nach Göttingen geschickt hatte.
    Und wieder knieten sie auf zwei Kissen nieder, und der Küchentisch war zum Altar geworden, der Pope sang mit seiner tiefen Baßstimme und Wolfgang und Irene hielten nach dem alten orthodoxen Ritus zwei kleine goldene Kronen über die gesenkten Köpfe von Dimitri und Bettina, während der Pope ihre Hände ineinander legte.
    Dimitri schloß die Augen, und auch Wolter, der gute alte Kolka, träumte.
    Die alte Klosterkirche bei Tiflis. Die Ikonostase mit den uralten Ikonen und Heiligenfiguren, fast farblos an den Füßen von den Millionen Küssen der Gläubigen in fünf Jahrhunderten. Im Hintergrund singt der Chor, eine Riesenorgel aus menschlichen Stimmen. Die Kerzen flackern, nach Wachs riecht es und nach Erde und Moos; ein Geruch, der aus den Kleidern der Bauern und Bäuerinnen strömt, ein Geruch von der Ewigkeit russischer Erde.
    Und der Pope segnet das Brot, und jeder weiß, daß Gott die Sonne und den Regen, den Wind und die Wolken schickt, und es blühen, reifen und Frucht tragen läßt, unabhängig von Fünfjahresplänen und Sollbestimmungen. Der Mensch vergeht, aber die Erde Rußlands wird bleiben, ein fruchtbarer Schoß bis zur Unendlichkeit.
    Gott segne es, das Mütterchen Rußland.
    Es war eine feierliche Trauung auf den beiden Sofakissen, vor dem mit einer Brokatdecke und mit drei Ikonen geschmückten Küchentisch.
    Viel hatte sich in diesen Wochen geändert. Dimitri hatte eine Stelle bei einer deutschen Erdölgesellschaft in Niedersachsen bekommen. Bettina hatte bei der DBOA gekündigt, und es ist ihr nicht schwergefallen, was sie sehr verwunderte, denn nie hatte sie geglaubt, daß
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