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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber
Autoren: Herman Melville
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muß also Vegetarier sein; aber nein; er ißt ja nicht einmal Gemüse, er ißt nichts als Ingwernüsse. Dann erging ich mich in Phantasien über die mutmaßlichen Auswirkungen einer einzig aus Ingwernüssen bestehenden Ernährung auf die menschliche Konstitution. Ingwernüsse haben ihren Namen daher, daß sie als einen ihrer besonderen Bestandteile, und zwar den entscheidenden, Geschmack verleihenden, Ingwer enthalten. Was nun war Ingwer? Etwas Feuriges, Hitziges. War Bartleby feurig und hitzig? Nicht im geringsten. Ingwer hatte also keine Wirkung auf ihn. Vermutlich mochte Bartleby es lieber so.
    Nichts erbittert einen ernsthaften Menschen so sehr wie ein passiver Widerstand. Wenn der, gegen den der Widerstand gerichtet wird, von nicht unmenschlicher Sinnesart und der, welcher den Widerstand ausübt, in seiner Passivität vollkommen harmlos ist, dann wird sich der erstere in seinen besseren Stunden nachsichtig bemühen, seiner Phantasie zu deuten, was sich seinem Verstande als unerklärlich erweist. Genauso betrachtete ich, meistenteils, Bartleby und seine Eigenheiten. Der arme Mensch! dachte ich, er meint es ja nicht böse; es ist offenkundig, daß er nichts Unverschämtes im Sinne hat; sein Aussehen beweist zur Genüge, daß seine Verschrobenheiten unfreiwillig sind. Er ist mir nützlich. Ich kann mit ihm auskommen. Wenn ich ihn entlasse, gerät er aller Wahrscheinlichkeit nach an einen weniger nachsichtigen Arbeitgeber, und dann wird er roh behandelt und vielleicht weggejagt, so daß er elend verhungern muß. Ja. Hier kann ich mir billig eine köstliche Zufriedenheit mit dem eigenen Ich verschaffen. Bartleby freundschaftlich zu behandeln, ihm in seiner seltsamen Eigenwilligkeit mit Geduld zu begegnen wird mich wenig oder nichts kosten, wohingegen ich in meiner Seele etwas ansammle, was sich schließlich als eine süße Speise für mein Gewissen erweisen wird. Doch diese Stimmung hielt nicht unverändert in mir an. Manchmal reizte mich Bartlebys Passivität. Ich fühlte mich sonderbar angestachelt, bei ihm auf erneuten Widerstand zu stoßen, ihm einen Zornesfunken zu entlocken, der meinem eigenen entsprach. Doch ich hätte wahrhaftig ebensogut versuchen können,mit den Fingerknöcheln aus einem Stück Windsor-Seife Feuer zu schlagen. Doch eines Nachmittags überwältigte mich der böse Trieb, und es ergab sich der folgende kleine Auftritt:
    »Bartleby«, sagte ich, »wenn die Schriftstücke alle abgeschrieben sind, will ich sie mit Ihnen vergleichen.«
    »Ich möchte lieber nicht.«
    »Wie? Sie beabsichtigen doch wohl nicht, an Ihrer störrischen Laune festzuhalten?«
    Keine Antwort.
    Ich stieß die Flügeltür neben mir auf und rief, zu Turkey und Nippers gewandt, aus:
    »Bartleby sagt schon wieder, daß er seine Schriftstükke nicht durchsehen will. Was meinen Sie dazu, Turkey?«
    Es sei daran erinnert, daß es Nachmittag war. Turkey saß da und glühte wie ein Messingkessel, sein kahler Schädel dampfte, seine Hände fuhren zwischen seinen tintenbeklecksten Schriftstücken herum.
    »Was ich dazu meine?« brüllte Turkey; »ich meine, daß ich gleich hinter den Wandschirm gehe und ihm die Augen blau schlage!«
    Damit erhob sich Turkey und brachte die Arme in Boxerstellung. Er wollte gerade losrennen, um sein Versprechen wahr zu machen, als ich ihn zurückhielt, erschrocken über die Wirkung, die das unbedachte Wachrufen von Turkeys nachmittäglicher Streitlust hatte.
    »Setzen Sie sich, Turkey«, sagte ich, »und hören Sie, was Nippers zu sagen hat! Was meinen Sie dazu, Nippers?Wäre ich nicht berechtigt, Bartleby auf der Stelle zu entlassen?«
    »Verzeihen Sie, es kommt Ihnen zu, das zu entscheiden, Sir. Ich finde sein Verhalten ganz ungewöhnlich und, was Turkey und mich betrifft, sogar ungerecht. Aber vielleicht ist es nur eine vorübergehende Laune.«
    »Ach«, rief ich aus, »da haben Sie ja Ihre Ansicht merkwürdig geändert – jetzt sprechen Sie so freundlich von ihm!«
    »Alles das Bier!« schrie Turkey; »Freundlichkeit kommt vom Bier – Nippers und ich haben heute zusammen zu Mittag gegessen. Sie sehen ja, wie freundlich ich bin, Sir. Soll ich hingehen und ihm die Augen blau schlagen?«
    »Vermutlich beziehen Sie sich auf Bartleby. Nein, nicht heute, Turkey«, erwiderte ich; »bitte, nehmen Sie die Fäuste weg.«
    Ich schloß die Tür und trat wieder auf Bartleby zu. Ich spürte in verstärktem Maße den Antrieb, der mich in mein Verhängnis lockte. Ich brannte darauf, daß er sich mir abermals
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