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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber
Autoren: Herman Melville
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sich von Ginger Nut sehr häufig jenes eigenartige Gebäck holen – klein, flach, rund und sehr würzig –, nach dem sie ihn benannt hatten. An kalten Vormittagen, wenn das Geschäft nur flau ging, pflegte Turkey Dutzende dieser kleinen Gebäckstücke zu verschlingen, als ob es bloß Oblaten wären – sechs bis acht kosten ja nur einen Penny –, und das Kratzen seiner Feder vermischte sich mit dem knirschenden Zermalmen der knusprigen Stückchen in seinem Mund. Zu all den hitzigen Nachmittagsfahrigkeiten und wirren Tollkühnheiten Turkeys gehörte es, daß er einmal eine Ingwernuß zwischen den Lippen anfeuchtete und als Siegel auf einen Pfandbrief klatschte. Damals hätte ich ihn um einHaar entlassen. Doch er besänftigte mich, indem er eine orientalische Verbeugung machte und sagte: »Mit Verlaub, Sir, es war großzügig von mir, Sie auf eigene Rechnung mit Kanzleimaterial zu versorgen.«
    Nun hatte meine ursprüngliche Tätigkeit – die eines Notars für Grundbesitzübertragungen und Forschers nach Eigentumsurkunden und Verfassers schwerverständlicher Dokumente aller Art – durch die Übernahme des Beisitzeramtes beträchtlich zugenommen. Es gab jetzt für Schreiber sehr viel Arbeit. Ich mußte nicht nur die bereits vorhandenen Angestellten zur Eile antreiben, sondern mußte auch noch zusätzliche Hilfe haben. Auf meine Anzeige hin stand eines Morgens ein regloser junger Mann auf der Schwelle meiner Kanzlei, denn es war Sommer, und die Tür stand offen. Ich sehe die Gestalt noch vor mir – farblos ordentlich, mitleiderregend anständig, rettungslos verlassen! Es war Bartleby.
    Nach ein paar Worten, die seine Fähigkeiten betrafen, stellte ich ihn an, froh, in meinem Kopistenkorps nun einen Mann von so ungemein ruhigem Äußeren zu haben, das sich, so glaubte ich, vorteilhaft auf Turkeys fahriges und Nippers’ hitziges Temperament auswirken könnte.
    Ich hätte schon früher erwähnen sollen, daß eine Flügeltür aus Milchglas meine Kanzlei in zwei Räume teilte, von denen der eine von meinen Schreibern, der andere von mir eingenommen wurde. Je nach Stimmung stieß ich diese Tür auf oder schloß sie. Ich nahm mir vor, Bartleby eine Ecke an der Flügeltür anzuweisen, aber auf meiner Seite, damit ich diesen ruhigen Mann bequem inRufweite hatte, falls irgendeine Kleinigkeit zu erledigen war. Ich stellte sein Pult dicht an ein kleines Seitenfenster in meinem Raum, ein Fenster, das ursprünglich eine seitliche Aussicht auf ein paar schmutzige Hinterhöfe und Backsteinmauern gewährt hatte, jetzt aber wegen später errichteter Gebäude überhaupt keine Aussicht mehr bot, wenn es auch noch etwas Licht spendete. Nicht weiter als drei Fuß von den Scheiben entfernt befand sich eine Mauer, und das Licht fiel von weit oben zwischen zwei hochragenden Gebäuden herab, wie von der sehr kleinen Öffnung in einer Kuppel. Um die Anordnung noch befriedigender zu gestalten, besorgte ich einen hohen grünen Wandschirm, der Bartleby zwar vollständig vor meinen Blicken abschließen, ihn jedoch meiner Stimme nicht entziehen konnte. Und so waren gewissermaßen Privatheit und Geselligkeit vereint.
    Anfangs erledigte Bartleby eine außerordentliche Menge an Schreibarbeit. Als ob er seit langem nach etwas zum Kopieren hungerte, schien er sich an meinen Akten vollzufressen. Zum Verdauen machte er keine Pause. Er arbeitete in Tag- und Nachtschicht und kopierte bei Sonnenlicht und bei Kerzenlicht. Ich hätte große Freude an seinem Eifer gehabt, wäre er bei seinem Fleiß frohgestimmt gewesen. Doch er schrieb immerfort stumm, bleich, mechanisch.
    Es gehört natürlich unbedingt zu den Aufgaben eines Schreibers, die Richtigkeit seiner Kopie Wort für Wort nachzuprüfen. Wo zwei oder mehr Schreiber in einer Kanzlei sind, helfen sie sich gegenseitig bei dieser Nachprüfung,indem der eine die Kopie vorliest und der andere das Original in der Hand hält. Es ist eine sehr langweilige, ermüdende und stumpfsinnige Tätigkeit. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie für manche lebhafte Naturen völlig unerträglich wäre. Zum Beispiel kann ich nicht glauben, daß der feurige Dichter Byron sich bereitwillig mit Bartleby hingesetzt hätte, um eine Rechtsurkunde von, sagen wir, fünfhundert Seiten, die mit verschnörkelter Schrift eng beschrieben sind, durchzusehen.
    Ich hatte die Gewohnheit, ab und zu, wenn die Arbeit drängte, beim Vergleichen eines kurzen Dokumentes selbst zu helfen, wozu ich dann Turkey oder Nippers zu mir rief. Als ich
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