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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber
Autoren: Herman Melville
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kleidete und so, nebenher, meiner Kanzlei Ehre machte. Was dagegen Turkey betraf, so hatte ich große Mühe, zu verhindern, daß er mir zur Schande gereichte. Seine Kleidung hatte gewöhnlich ein speckiges Aussehen und den Geruch von Speisehäusern an sich. Im Sommer trug er seine Hosen sehr locker und schlottrig. Seine Röcke waren widerwärtig; sein Hut war nicht zum Anfassen. Aber während mir der Hut gleichgültig war, da ihn angeborene Höflichkeit und seine Ehrerbietigkeit als Engländer in abhängiger Stellungstets bewogen, ihn abzunehmen, sowie er das Zimmer betrat, war es mit seinem Rock doch eine andere Sache. Ich redete ihm wegen seiner Röcke vernünftig zu, aber ohne Erfolg. Es verhielt sich vermutlich in Wahrheit so, daß ein Mann mit einem so geringen Einkommen es sich nicht leisten konnte, gleichzeitig mit einer solch prächtigen Gesichtsfarbe und einem prächtigen Rock zu prunken. Wie Nippers einmal bemerkte, ging Turkeys Geld hauptsächlich für rote Tinte drauf. Eines Wintertags schenkte ich Turkey einen höchst respektabel aussehenden Rock aus meinem Besitz, einen wattierten grauen Rock, der sehr angenehm wärmte und sich vom Knie bis zum Hals gerade aufwärts zuknöpfen ließ. Ich dachte, Turkey würde diese Gunst zu schätzen wissen und seine nachmittägliche Tollkühnheit und Ungebärdigkeit mäßigen. Aber nein. Ich glaube wahrlich, es hatte einen schädlichen Einfluß auf ihn, daß er sich in einen so daunenweichen und wolldeckenartigen Rock knöpfen konnte – nach derselben Regel, daß zuviel Hafer den Pferden schlecht bekommt. Und genauso, wie man von einem unbändigen, störrischen Pferd sagt, daß es der Hafer sticht, konnte man von Turkey sagen, daß ihn der Rock stach. Er machte ihn unverschämt. Turkey war ein Mensch, dem Wohlstand schadete.
    Obschon ich gegenüber Turkeys ungezügelten Gewohnheiten meine stillen Vermutungen hegte, war ich, was Nippers betraf, doch völlig überzeugt, daß er wenigstens, was immer für Fehler er sonst haben mochte, ein enthaltsamer junger Mann war. Jedoch schien die Naturselbst sein Weinhändler gewesen zu sein und ihn bei der Geburt mit einem derartig reizbaren Branntweincharakter ausgestattet zu haben, daß jede spätere Zecherei sich erübrigte. Wenn ich bedenke, wie Nippers, inmitten der Stille meiner Kanzlei, manchmal ungeduldig von seinem Stuhl aufstand, sich über seinen Tisch beugte, die Arme weit ausbreitete, das ganze Pult packte und es, unter grimmiger, mahlender Bewegung auf dem Fußboden, verrückte und stieß, als wäre der Tisch ein verstocktes, selbständig handelndes Wesen, das es darauf absah, ihm Schwierigkeiten und Verdruß zu bereiten, dann erkenne ich klar, daß für Nippers Brandy mit Wasser ganz und gar überflüssig war.
    Es war mein Glück, daß sich wegen der besonderen Ursache, der Verdauungsstörung, die Gereiztheit und die daher rührende Nervosität von Nippers hauptsächlich vormittags bemerkbar machten, wohingegen er nachmittags verhältnismäßig milde war. Da Turkeys Anfälle immer erst gegen zwölf Uhr begannen, hatte ich daher nie mit ihren Verschrobenheiten gleichzeitig zu tun. Ihre Launen lösten einander ab wie Wachposten. Wenn Nippers’ Laune Dienst hatte, hatte Turkeys dienstfrei – und umgekehrt. Es war, unter den gegebenen Umständen, eine gute natürliche Anordnung.
    Ginger Nut, der dritte auf meiner Liste, war ein junger Bursche von ungefähr zwölf Jahren. Sein Vater war Fuhrmann und hegte den Ehrgeiz, vor seinem Tode den Sohn auf der Richterbank statt auf dem Kutschbock zu sehen. Deshalb schickte er ihn als Rechtsstudenten, Laufjungenund Putzer und Ausfeger zum Satz von einem Dollar die Woche in meine Kanzlei. Er hatte ein kleines Pult für sich, doch er benutzte es nicht häufig. Bei einer Inspektion des Schubfaches zeigte sich eine große Menge von Schalen verschiedener Arten von Nüssen. Tatsächlich war diesem aufgeweckten Jüngling die ganze edle Wissenschaft vom Recht in einer Nußschale enthalten. Nicht die geringste unter Ginger Nuts Obliegenheiten, gleichermaßen eine, der er mit der größten Bereitwilligkeit nachkam, war sein Amt als Gebäck- und Apfellieferant für Turkey und Nippers. Da das Kopieren von Rechtsurkunden eine sprichwörtlich trockene, langweilige Art Tätigkeit ist, waren meine beiden Schreiber genötigt, sich sehr oft den Mund mit Spitzenberger Äpfeln zu befeuchten, die an den zahlreichen Ständen nahe dem Zollgebäude und dem Postamt zu haben sind. Außerdem ließen sie
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