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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber
Autoren: Herman Melville
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Bartleby so leicht erreichbar für mich hinter dem Wandschirm unterbrachte, war es eine meiner Absichten, mich bei derlei alltäglichen Anlässen seiner Hilfe zu bedienen. Wohl am dritten Tage, seit er bei mir war, und noch bevor sich eine Notwendigkeit ergeben hatte, seine eigenen Abschriften durchsehen zu lassen, wollte ich eine kleine Sache, die ich in Arbeit hatte, rasch erledigen und rief unvermittelt nach Bartleby. Da ich in Eile war und natürlich erwartete, daß er meiner Aufforderung unverzüglich Folge leisten würde, saß ich an meinem Pult, den Kopf über das Original gebeugt und die rechte Hand mit der Kopie etwas nervös zur Seite ausgestreckt, damit Bartleby, sowie er aus seinem Schlupfwinkel hervorkam, sie ergreifen und ohne die geringste Verzögerung an die Arbeit gehen konnte.
    In ebendieser Haltung saß ich da, als ich nach ihm riefund schnell erklärte, was er tun sollte – nämlich mit mir zusammen ein kurzes Schriftstück durchsehen. Man stelle sich meine Überraschung, nein meine Bestürzung vor, als Bartleby, ohne sich aus seiner Abgeschiedenheit zu rühren, mit eigentümlich sanfter, entschiedner Stimme erwiderte: »Ich möchte lieber nicht.«
    Ich saß eine Weile vollkommen stumm da und sammelte meine betäubten Gedanken. Gleich darauf kam mir in den Sinn, meine Ohren hätten mich getäuscht oder Bartleby habe meine Worte völlig mißverstanden. Ich wiederholte meine Aufforderung so deutlich, wie ich nur konnte. Aber genauso deutlich kam die gleiche Antwort wie vorher: »Ich möchte lieber nicht.«
    »Möchte lieber nicht«, wiederholte ich, stand in großer Erregung auf und durchquerte das Zimmer mit ein paar langen Schritten. »Was soll das heißen? Sind Sie verrückt geworden? Sie sollen mir helfen, dieses Blatt hier zu vergleichen – nehmen Sie es!«, und ich stieß es ihm entgegen.
    »Ich möchte lieber nicht«, sagte er.
    Ich blickte ihn scharf an. Sein Gesicht war hager-unbewegt, das graue Auge trüb-ruhig. Nicht eine Falte der Erregung kräuselte sein Gesicht. Hätte sein Verhalten auch nur einen Anflug von Unbehagen, Ärger, Ungeduld oder Unverschämtheit gezeigt, mit anderen Worten, wäre etwas im gewöhnlichen Sinne Menschliches an ihm gewesen, so würde ich ihn bestimmt voller Zorn aus der Kanzlei entlassen haben. Doch so, wie die Dinge lagen, hätte ich ebensogut auf den Gedanken kommen können,meiner bleichen Cicero-Gipsbüste die Tür zu weisen. Ich stand da und starrte ihn eine Weile an, während er mit seiner eigenen Schreibarbeit fortfuhr, und setzte mich dann wieder an mein Pult. Das ist sehr seltsam, dachte ich. Was tut man da am besten? Doch die Arbeit drängte. Ich beschloß, die Sache fürs erste auf sich beruhen zu lassen und sie für eine spätere Mußestunde zurückzustellen. Daher rief ich Nippers aus dem anderen Zimmer, und das Schriftstück wurde rasch durchgesehen.
    Ein paar Tage darauf beendete Bartleby vier lange Dokumente, die vierfache Ausfertigung von Zeugenaussagen, welche eine Woche lang in meinem Beisein vor dem High Court of Chancery aufgenommen worden waren. Es wurde jetzt notwendig, sie durchzusehen. Es handelte sich um einen wichtigen Rechtsstreit, und größte Genauigkeit war geboten. Nachdem ich alles vorbereitet hatte, rief ich Turkey, Nippers und Ginger Nut aus dem Nebenzimmer in der Absicht, die vier Kopien meinen vier Angestellten in die Hand zu geben, während ich das Original vorlesen würde. Dementsprechend hatten Turkey, Nippers und Ginger Nut in einer Reihe Platz genommen, jeder sein Dokument in der Hand, als ich nach Bartleby rief, damit er sich dieser interessanten Gruppe zugeselle.
    »Bartleby! schnell, ich warte!«
    Ich hörte, wie die Beine seines Stuhles langsam über den kahlen Fußboden scharrten, und kurz darauf stand er am Eingang seiner Einsiedelei.
    »Was wird gewünscht?« sagte er sanft.
    »Die Abschriften, die Abschriften!« sagte ich hastig. »Wir wollen sie durchsehen. Hier ...«, und ich hielt ihm die vierte Kopie hin.
    »Ich möchte lieber nicht«, sagte er und verschwand sachte hinter dem Wandschirm.
    Einige Augenblicke stand ich, zur Salzsäule erstarrt, an der Spitze meiner sitzenden Angestelltenkolonne. Dann faßte ich mich wieder, trat auf den Wandschirm zu und fragte nach dem Grund solch ungewöhnlichen Verhaltens.
    » Warum weigern Sie sich?«
    »Ich möchte lieber nicht.«
    Bei jedem anderen Menschen wäre ich auf der Stelle in einen furchtbaren Zorn geraten, hätte es verschmäht, noch ein einziges weiteres
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