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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber
Autoren: Herman Melville
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nicht mehr. In jener Richtung gewährten meine Fenster eine ungehinderte Sicht auf eine hochragende Backsteinmauer, die vom Alter und immerwährendenSchatten geschwärzt war, und es erforderte kein Fernglas, um ihre verborgenen Schönheiten zu entdekken, denn zum Nutzen aller kurzsichtigen Betrachter war sie nicht weiter als zehn Fuß von meinen Fensterscheiben entfernt in die Höhe getrieben. Da die umliegenden Gebäude sehr hoch waren und da meine Kanzlei im ersten Stock lag, ähnelte der Raum zwischen dieser Wand und der meinen nicht wenig einer riesigen viereckigen Zisterne.
    In der dem Erscheinen Bartlebys unmittelbar vorhergehenden Zeit standen zwei Männer als Kopisten und ein vielversprechender Jüngling als Laufbursche in meinen Diensten. Erstens Turkey; zweitens Nippers; drittens Ginger Nut. Es mag scheinen, daß dies Namen sind, wie man sie für gewöhnlich nicht im Adreßbuch findet. In Wahrheit waren es auch Spitznamen, die meine drei Angestellten sich gegenseitig beigelegt hatten, und sie fanden, daß die Namen das Äußere oder den Charakter jeweils gut ausdrückten. Turkey war ein untersetzter, dicker Engländer und ungefähr meines Alters, das heißt an die Sechzig. Am Vormittag zeigte sein Gesicht, wie man sagen könnte, eine schöne, blühende Farbe, aber nach zwölf Uhr mittags, seiner Essenszeit, glühte es wie ein Kaminrost voller Weihnachtskohlen und glühte dann, doch gewissermaßen mit allmählichem Verblassen, fort bis etwa sechs Uhr nachmittags; danach sah ich nichts mehr von dem Eigentümer des Gesichts, das mit der Sonne seinen höchsten Stand erreichte und, wie mir schien, mit ihr sank, am folgenden Tage wiederaufging, den Zenit erklomm und unterging, mit der gleichen Regelmäßigkeit und unverminderten Pracht wie sie. Im Laufe meines Lebens sind mir viele merkwürdige Zufälle begegnet, und nicht der unbedeutendste unter ihnen war die Tatsache, daß genau dann, wenn Turkey von seinem roten und leuchtenden Gesicht die stärksten Strahlen aussandte, genau dann, in diesem kritischen Augenblick, auch täglich die Zeit begann, in der ich seine berufliche Tüchtigkeit für den Rest der vierundzwanzig Stunden als ernstlich beeinträchtigt ansah. Nicht, daß er dann völlig träge oder der Arbeit abhold war – weit gefehlt! Die Schwierigkeit bestand gerade darin, daß er dazu neigte, nun viel zu tatendurstig zu sein. Es war eine Betriebsamkeit von sonderbarer, hitziger, flüchtiger, fahriger Sorglosigkeit an ihm. Ohne Vorsicht tauchte er seine Feder ins Tintenfaß. Alle seine Tintenkleckse auf meinen Akten waren nach zwölf Uhr mittags darauf getropft. Ja nachmittags war er nicht nur sorglos und auf betrübliche Weise zur Erzeugung von Tintenklecksen geneigt, sondern an manchen Tagen ging er noch weiter und war ziemlich laut. Zu solchen Zeiten leuchtete zudem sein Gesicht in erhöhter Farbenpracht, als hätte man Kännelkohle auf Anthrazit gehäuft. Er machte unliebsamen Lärm mit seinem Stuhl, verschüttete Sand aus der Streusandbüchse, spaltete in seiner Ungeduld alle seine Federn beim Nachschneiden in Stücke und warf sie in jähem Zorn auf den Fußboden, stand auf und lehnte sich über den Tisch, wobei er seine Schriftstücke auf höchst unschickliche Weise durcheinanderbrachte– ein sehr betrüblicher Anblick bei einem bejahrten Manne wie ihm. Trotzdem war ich, da er mir in vielfacher Hinsicht höchst wertvoll und die ganze Zeit vor zwölf Uhr mittags zudem der flinkeste, stetigste Mensch war, welcher eine große Menge Arbeit auf eine Weise bewältigte, der nicht leicht gleichzukommen war, aus ebendiesen Gründen willens, über seine Verschrobenheiten hinwegzusehen, aber gelegentlich machte ich ihm doch Vorhaltungen. Allerdings tat ich es sehr behutsam, weil er, der am Vormittag der höflichste, nein der sanftmütigste und ehrerbietigste der Menschen war, am Nachmittag, wenn er gereizt wurde, dazu neigte, in seiner Redeweise etwas voreilig, offen gesagt, unverschämt zu sein. Da ich nun seine vormittäglichen Dienste sehr schätzte und entschlossen war, sie nicht zu verlieren, doch andererseits sein hitziges Benehmen nach zwölf Uhr mir lästig fiel, und da ich als friedliebender Mensch nicht gewillt war, durch meine Ermahnungen unziemliche Erwiderungen hervorzurufen, nahm ich es eines Sonnabendmittags auf mich (sonnabends war es immer besonders schlimm mit ihm), ihm, in sehr freundlichem Tone, zu bedeuten, daß es vielleicht jetzt, wo er alt werde, für ihn ratsam sei, seine
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