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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber
Autoren: Herman Melville
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Zeuge einer Einöde, die er dicht bevölkert gesehen hat – eine Art schuldloser und verwandelter Marius, der in den Trümmern Karthagos vor sich hin grübelt!
    Zum ersten Mal in meinem Leben packte mich ein Gefühl überwältigender, quälender Schwermut. Bisher hatte ich nie etwas anderes als eine nicht einmal unangenehme Traurigkeit erfahren. Jetzt zogen mich die Bande gemeinsamen Menschentums unwiderstehlich ins Düster. Eine brüderliche Schwermut! Denn ich und Bartleby, beide waren wir Söhne Adams. Ich dachte an dieglänzende Seide und die strahlenden Gesichter, die ich an diesem Tage, in festlichem Staat, schwanengleich den Mississippi des Broadway hatte hinabsegeln sehen; und ich verglich sie mit dem blassen Schreiber und dachte bei mir: Ach, das Glück huldigt dem Licht, daher glauben wir, die Welt sei heiter; das Elend dagegen hält sich abseits verborgen, daher glauben wir, es sei nicht vorhanden. Diese betrüblichen Phantasien – zweifellos Gespinste eines kranken und törichten Hirns – führten weiter zu anderen und bestimmteren Gedanken, die Bartlebys Verschrobenheiten betrafen. Mich umschwebten Vorahnungen seltsamer Entdeckungen. Die bleiche Gestalt des Schreibers erschien mir aufgebahrt, unter teilnahmslosen Fremden, in ihrem schauernden Leichentuch.
    Plötzlich zog mich Bartlebys geschlossenes Pult an; der Schlüssel steckte deutlich sichtbar im Schloß.
    Ich habe nichts Böses im Sinn, will keine herzlose Neugier befriedigen, dachte ich; außerdem gehört das Pult mir und ebenfalls sein Inhalt, daher werde ich mir die Freiheit nehmen hineinzusehen. Alles war planmäßig geordnet, die Schriftstücke lagen säuberlich übereinander. Die Fächer waren tief; ich entfernte die Aktenbündel und tastete bis in die hintersten Winkel. Sogleich fühlte ich dort etwas und zog es heraus. Es war ein altes buntes Seidentaschentuch, schwer und zusammengeknotet. Ich öffnete es und sah, daß es eine Sparkasse war.
    Nun entsann ich mich all der stillen Geheimnisse, die ich an dem Manne bemerkt hatte. Ich dachte daran, daß er nie sprach, außer um zu antworten; daß ich ihn, obschoner dann und wann ziemlich viel Zeit für sich hatte, nie hatte lesen sehen – nein, nicht einmal eine Zeitung; daß er oft lange an seinem trüben Fenster hinter dem Wandschirm stand und hinaus auf die tote Backsteinmauer sah; ich war ganz sicher, er besuchte nie eine Speisehalle oder ein Gasthaus; und zudem zeigte sein blasses Gesicht deutlich, daß er nie Bier trank wie Turkey oder auch nur Tee und Kaffee wie andere Menschen; daß er, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, nie irgendwo hinging; daß er nie einen Spaziergang machte, es sei denn eben jetzt; daß er es abgelehnt hatte, mir zu sagen, wer er sei oder woher er komme oder ob er irgendwelche Verwandte auf der Welt habe; daß er, wenngleich so mager und blaß, nie über schlechte Gesundheit klagte. Und mehr als an all dies dachte ich an ein gewisses, ihm nicht bewußtes Benehmen von blassem – wie soll ich es nennen? – sagen wir, von blassem Hochmut oder vielmehr an eine abweisende Zurückhaltung an ihm, die mich tatsächlich so eingeschüchtert hatte, daß ich mich seinen Verschrobenheiten willfährig fügte und mich scheute, ihn um die kleinste beiläufige Hilfe zu bitten, selbst wenn ich von seiner lang anhaltenden Regungslosigkeit her wissen konnte, daß er in einer seiner Mauerträumereien hinter seinem Wandschirm stehen mußte.
    Als ich all dies bedachte und es mit der eben entdeckten Tatsache, daß er meine Kanzlei zu seinem ständigen Aufenthaltsort und Heim gemacht hatte, in Verbindung brachte und auch seine krankhafte Launenhaftigkeit nicht vergaß – als ich all dies bedachte, geriet ich allmählichin eine nüchterne Stimmung. Zuerst hatte ich reine Schwermut und aufrichtiges Mitleid empfunden; doch im selben Maße, wie Bartlebys Verlassenheit in meiner Phantasie immer größer wurde, ging diese Schwermut in Furcht, das Mitleid in Widerwillen über. Es ist so wahr, und so schrecklich dazu, daß die Vorstellung oder der Anblick des Elends zwar bis zu einem gewissen Grade unsere edelsten Regungen auf den Plan ruft, aber in gewissen besonderen Fällen nicht über diesen Grad hinaus. Wer behaupten wollte, dies sei stets auf die angeborene Selbstsucht des Menschenherzens zurückzuführen, der ist im Irrtum. Es rührt vielmehr von einer gewissen Aussichtslosigkeit her, ein übermäßiges und anlagebedingtes Leiden zu heilen. Ein empfindsames Wesen erlebt Mitleid
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