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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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darauf wartete, dass die Sonne am Horizont unterging. Ich hörte die Schritte auf den Planken des Steges und sah ihn.
    Der Patron, ganz in Weiß, schritt langsam über den Steg und hatte ein sieben- oder achtjähriges Mädchen an der Hand. Sogleich erkannte ich das Bild, diese alte Fotografie, die Cristina ihr ganzes Leben lang wie einen Schatz bewahrt hatte, ohne zu wissen, woher sie stammte. Der Patron ging auf das Ende des Steges zu und kniete neben dem Mädchen nieder. Beide sahen zu, wie sich die Sonne goldglühend auf das grenzenlose Meer ergoss. Ich ging aus der Hütte und betrat den Steg. Als ich an dessen Ende gelangte, wandte sich der Patron um und lächelte mir zu. In seinem Gesicht lag weder Drohung noch Groll, nur ein leichter melancholischer Schatten.
    »Ich habe Sie vermisst, mein Freund«, sagte er. »Ich habe unsere Gespräche vermisst, selbst unsere kleinen Streitereien …«
    »Sind Sie gekommen, um abzurechnen?«
    Er lächelte und schüttelte bedächtig den Kopf.
    »Wir alle machen Fehler, Martín. Ich vor allem. Ich habe Ihnen genommen, was Sie am meisten geliebt haben. Ich tat es nicht, um Sie zu verletzen. Ich tat es aus Angst. Aus Angst, sie könnte Sie mir wegnehmen, Sie und Ihre Arbeit. Es war ein Irrtum. Ich habe einige Zeit gebraucht, um es einzusehen, aber wenn ich irgendetwas habe, dann ist es Zeit.«
    Ich betrachtete ihn eingehend. Wie ich war auch der Patron um keinen Tag gealtert. »Wozu sind Sie also gekommen?« Er zuckte die Schultern.
    »Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden.«
    Sein Blick richtete sich auf das Mädchen an seiner Hand, das mich neugierig anschaute.
    »Wie heißt du?«, fragte ich.
    »Sie heißt Cristina«, sagte der Patron.
    Sie schaute ihm in die Augen und nickte. Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror. Ihre Züge konnte ich nur erahnen, der Blick aber war unverkennbar.
    »Cristina, sag meinem Freund David guten Tag. Von jetzt an wirst du bei ihm wohnen.«
    Ich wechselte einen Blick mit dem Patron, sagte aber nichts. Das Mädchen gab mir die Hand, als hätte sie es tausendmal geübt, und lächelte verlegen. Ich kauerte mich zu ihr nieder und nahm die Hand.
    »Hallo«, flüsterte sie.
    »Sehr gut, Cristina«, lobte der Patron. »Und was noch?«
    Das Mädchen nickte, als erinnerte sie sich plötzlich. »Man hat mir gesagt, Sie seien ein Geschichtenmacher.«
    »Einer der besten«, fügte der Patron hinzu. »Werden Sie eine für mich machen?« Ich zögerte einen Moment. Unruhig schaute die Kleine den Patron an.
    »Martín?«, flüsterte dieser.
    »Natürlich«, sagte ich schließlich. »Ich werde so viele Geschichten für dich machen, wie du willst.«
    Sie lächelte und küsste mich auf die Wange.
    »Warum gehst du nicht an den Strand und wartest dort auf mich, während ich mich von meinem Freund verabschiede, Cristina?«, fragte der Patron.
    Sie nickte und ging langsam davon, sich immer wieder lächelnd umschauend. Neben mir flüsterte die Stimme des Patrons sanft ihren ewigen Fluch.
    »Ich habe beschlossen, Ihnen zurückzugeben, was Sie am meisten geliebt haben und was ich Ihnen genommen habe. Ich habe beschlossen, dass Sie einmal an meine Stelle treten und fühlen, was ich fühle, dass Sie keinen Tag älter werden und Cristina heranwachsen sehen, dass Sie sich noch einmal in sie verlieben, sie an Ihrer Seite älter werden und eines Tages in Ihren Armen sterben sehen. Das ist mein Segen und meine Rache.«
    Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
    »Das ist unmöglich. Sie wird nie dieselbe sein.«
    »Das hängt ausschließlich von Ihnen ab, Martín. Ich gebe Ihnen ein unbeschriebenes Blatt. Diese Geschichte gehört nicht mehr mir.«
    Ich hörte ihn davongehen, und als ich die Augen wieder öffnete, war er nicht mehr da. Am Anfang des Steges stand Cristina und schaute mich eifrig an. Ich lächelte ihr zu, und sie kam zögernd näher.
    »Wo ist der Herr?«, fragte sie.
    »Er ist gegangen.«
    Sie schaute sich auf dem zu beiden Seiten menschenleeren Strand um.
    »Für immer?« »Für immer.«
    Sie lächelte und setzte sich neben mich.
    »Ich habe geträumt, wir seien Freunde«, sagte sie.
    Ich schaute sie an und nickte.
    »Das sind wir auch. Wir sind immer Freunde gewesen.«
    Sie lachte und ergriff meine Hand. Ich zeigte aufs Meer, in dem die Sonne versank, und Cristina sah mit Tränen in den Augen hinaus.
    »Werde ich mich eines Tages erinnern?«, fragte sie.
    »Eines Tages.«
    Da wusste ich, dass ich jede Minute, die es für uns
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