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Bank, Zsuzsa

Bank, Zsuzsa

Titel: Bank, Zsuzsa
Autoren: Die hellen Tage
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danach. Aja und ich haben uns diese Bilder
angeschaut, weil uns manchmal danach war, weil wir sehen wollten, wie wir
damals sprangen und fielen, und wie es uns nichts ausmachte zu fallen, weil wir
keine Angst haben mussten, weil wir einfach aufstehen konnten, den Dreck
abklopfen und weiterlaufen.
    Ellen und meine Mutter haben nicht
aufgehört, Évi zu besuchen, sooft sie können, und wir auch nicht, Aja, Karl
und ich. Karl verbringt jeden Abend bei ihr, wenn er in Kirchblüt ist, als habe
Évi etwas gut bei ihm, als sei Karl ihr etwas schuldig, und ich weiß nicht, ob
es ist, weil sie den Steinwurf verschwiegen hat, ist es, weil sie seine Eltern
zurückgeholt hat ins Leben, oder einfach, weil sie ist, wie sie ist. Karl will
ich nicht danach fragen, auch wenn er manchmal sagt, für Évi würde er durchs
Feuer gehen, und es dann klingt, als wolle er mir auch sagen, warum. In dem
Herbst, als von nichts anderem berichtet wurde als von den Menschen in der
Prager Botschaft und den Menschen, die über die grüne Grenze nach Westen
geflohen waren, über Ungarn, das Land, in dem Évi geboren wurde, schaltete
Karl jeden Tag Évis Radio ein, das sein Vater ihr vor Jahren geschenkt hatte,
und obwohl alles fern genug geschah, drang es über die Hügel und durch die dichten
Wälder in Évis winzige Küche, auch wenn wir nicht wussten, wie viel Évi in
diesen Tagen überhaupt davon verstand. Wir konnten diese Stimme hören, und wir
hörten sie immer wieder, jedes Mal, wenn wir bei Évi waren, den Anfang dieses
einen Satzes: Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute
Ihre Ausreise, und der Rest versank in Jubel, weit entfernt von uns, und doch
konnten wir ihn selbst in Kirchblüt, in Évis Küche noch spüren, wir brauchten
nur das Radio einzuschalten, die kleine Antenne zu richten und konnten ihn
spüren. Auch als Ellen und meine Mutter kamen, mit zwei Flaschen Winzersekt aus
Ellens Kofferraum, spürten wir etwas davon, als wir anstießen mit den
Kristallgläsern aus dem schiefen Schrank, als Ellen sagte: Évi, jetzt schließt
sich dein Kreis, und meine Mutter: Ihr werdet sehen, jetzt versinken die
Grenzen.
    Jemand von der Polizei ist bei
Ellen gewesen. Ausgerechnet jetzt, da sie ihren Frieden mit der Dunkelheit
geschlossen hat, wie sie sagt. Manchmal hat sie Jakob gebeten, mit Ben allein
sein zu dürfen, und er hat sie über die Landstraßen schnell nach Kirchblüt
gefahren und gewusst, wenn sie hinter dem Tor verschwindet, wird sie Tage im
Haus verbringen, mit den Bildern an den Wänden und denen in ihrem Kopf, mit
Bens Stimme, die sie noch immer hören kann, nach so vielen Jahren noch immer
hören kann. Ellen sagt, sie hätten neue Hinweise, sie hätten die Spur wiederaufgenommen,
mit neuen Verfahren. Ellen schöpft gerade Hoffnung, sie hofft auf Klarheit,
nach einem halben Menschenleben hofft sie jetzt auf Klarheit. Jemand muss es
ihr sagen, jemand muss es für sie aussprechen, sie muss hören, Ben ist tot,
vielleicht braucht sie dann das Kästchen aus Blech nicht mehr von Évis Regal zu
nehmen und die Murmeln über den schiefen Tisch zu rollen. Aja und ich haben
uns oft gefragt, ob Ellen wirklich glaubt, Ben würde noch mit Murmeln spielen,
es würde ihn freuen, sie zu sehen, und er würde sich an sie erinnern, ob er in
ihrer Vorstellung wirklich nie gewachsen und älter geworden ist, sondern
weiter Murmeln an sein Fenster schnipst.
    Meine Mutter hat angefangen,
Figuren aus Ton zu kneten, Frauen mit langen Kleidern über ihren dicken Hüften
und Bäuchen. Sie stehen in der Garage und im Haus, auf den Fensterbänken und
Treppenstufen, kleine Frauen aus Ton, die sie mit den Händen geformt hat. Alle
sehen ähnlich aus, mit ihren kurzen roten Haaren, die meine Mutter mit einem
Pinsel aufgemalt hat, ihren spitzen Lippen und den runden, weit aufgerissenen
Augen, in deren Blick sich ein leiser Vorwurf geschlichen hat. Ein Heer aus
Tonfiguren begleitet meine Mutter stumm, und während es Staub ansetzt, füllt
es die Leere des Hauses und nimmt ihm etwas von seiner Größe, jetzt, da ich
schon lange nicht mehr dort wohne und Aja seit Jahren kein Gästezimmer mehr
braucht. Seit meine Mutter Italien von ihrer Landkarte gestrichen hat, seit sie
aufgehört hat, die Via Antonelli abzulaufen und nach einer Elsa Ausschau zu
halten, sich bei jedem Gesicht zu fragen, ob sie es sein könnte, ob sie jene
Elsa sein könnte, die mit meinem Vater ein winziges Leben gelebt hat, das für
meine Mutter groß genug war, um ihr eigenes
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