Babylons letzter Wächter (German Edition)
ehemaligen Schreibtisch. Es war das einzige Geräusch.
„Niemand? Gut, dann verlese ich nun folgenden Beschluss:
„ Die gesamte Redaktion des Babylon Tribune ist wegen Volksverhetzung und Hochverrat angeklagt. Dies beinhaltet sämtliche Mitarbeiter ohne Ausnahme. Ich habe auf meiner Liste die Namen Sanders und Price, entschuldigt wegen Krankheit. Team Gamma und Team Pi sind auf dem Weg zu ihnen. Für die Übrigen gilt die Anweisung, Verräter sind unverzüglich hinzurichten. Männer, ich erteile ihnen Schießbefehl!“
*
Zack und Steve brüteten in der öffentlichen Bibliothek. In der Schule wurde gerade zur vierten Stunde geläutet. Hier drin stand die Zeit still, und keine Macht wagte es, die Jungen zu berühren.
„ Mensch Zack, mich wundert dein religiöser Eifer. Ich hielt dich immer für einen überzeugten Atheisten.“
„ Diesmal ist es anders. Ich spüre, dass er mich ruft.“
„ Gelobet sei der Wächter, in Ewigkeit, Amen. Das predigen sie schon den Kleinsten im Religionsunterricht.“
„ Ich glaube, ich habe was gefunden.“
„ Was hast du denn?“
„ Hier. Johnsons urbane Mythen und Legenden, Seite sechsundsiebzig:
… wurde sich gegen Ende des auslaufenden Jahrtausends die Geschichte des Wächters erzählt. Der Legende zufolge stellte er eine Art geistige Leitfigur dar mit besonderen Fähigkeiten. Ähnlich wie bei den alten germanischen und gallischen Stämmen war er ein Seher, der den Menschen die Zukunft vorhersagte und ihre Träumen deutete. Er lebte in Gefangenschaft und wartete auf den Tag seiner Erlösung. Ein wissbegieriges Kind mit reinem Herzen sollte der Auserwählte sein, der ihn befreien konnte.
„Sorry, aber da läuft es mir kalt den Rücken runter.“
„ Ich kann das Kind sein.“
„ Du bist nicht mehr als ein armer Narr an seinem Hofstaat.“
„ Hast du nicht begriffen, wie ungeheuerlich Johnsons Aussage ist? Er beschreibt die Entstehungsgeschichte einer Religion. Lange, bevor die Menschen sie wahrnahmen.“
„ Dann war er halt irgendeine Art von Prophet, na und? Das beweist noch gar nichts.“
„ Jesus war auch ein Prophet. Ein Religionsstifter und Märtyrer.“
„ Nehmen wir an, der Wächter war wirklich ein Religionsstifter.“
„ Du springst in der Zeit vor. Ich wollte auf etwas anderes hinaus.“
„ Was denn?“
„ Zuerst war er ein Mensch wie du und ich. Mit all seinen Sorgen und Nöten. Mich interessiert, was ihn zum Wächter gemacht hat.“
„ Er wird seine Gabe erkannt haben und in den Dienst des Volkes gestellt haben.“
„ Umgekehrt. Das Volk im Dienste seiner Gabe.“
„ Dann schau dir mal diesen Abschnitt aus Staat und Religion, Band 1 an.“
Anfangs hielten es die Alten für einen reinen Mythos, ein Ammenmärchen. Sie hatten neue Sekten kommen und gehen sehen wie die Gezeiten, die den Donnerfelsen umspülten. Doch der Wächterkult schaffte es sehr schnell, neue Anhänger zu gewinnen. Ausgehend von der Metropole Babylon verbreitete er sich wie ein Lauffeuer im gesamten Land. Trieb die Christen aus ihren Kirchen, die Muslime aus ihren Moscheen und die Buddhisten aus ihren Tempeln.
Die Wächtergemeinde empfing sie mit offenen Armen. Sie glaubten nicht an Hass und Rachsucht. Es war keine Sünde, wenn man vorher an den falschen Gott geglaubt hatte. Der Wächter vergab ihnen allen und erteilte ihnen die heilige Kommunion.
Im Laufe der Jahre entstand das hohe Buch, in dem seine Anhänger von den Wundern und Lehren des Wächters berichteten. Die verlassenen Kirchen wurden zu neuen Gebetstempeln geweiht […]
Am ersten Juni zweitausendeins erklärte Präsident Chase auf vielfaches Drängen des Volkes den Wächterkult zur Staatsreligion.
„ Klingt mir, als hätte sich die Idee des Wächters irgendwann verselbstständigt.“
„ Was aber nicht die Frage klärt, ob er jemals eine reale Figur war.“
„ Vielleicht war er ein Prediger, der irgendwann einmal in der Versenkung verschwand. So wie es viele in Babylons Straßen gibt.“
„ Eine Heiligsprechung ist nicht so effektiv wie ein Mysterium. Um ein Mysterium ranken sich Geschichten.“
„ Warum gibt es keine Bilder von ihm, wenn er wirklich gelebt hat?“
„ Du sollst dir kein Bildnis machen von mir. Er wollte den Ruhm nie haben. Hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, bevor sie ihr Auge auf ihn richten konnte. Genauso gut kannst du dir die Frage stellen, ob Elvis noch lebt.“
„ Mir reicht das Bild, was ich von ihm im Kopf habe. Nach jeder Nacht
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