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Babylons letzter Wächter (German Edition)

Babylons letzter Wächter (German Edition)

Titel: Babylons letzter Wächter (German Edition)
Autoren: Thomas Reich
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öffnete den Verschluss, quetschte einen kleinen weißen Klecks heraus und leckte vorsichtig daran. Es schmeckte nach Minze. Schien alles ganz normal zu sein.
    Wer war ich? Der Blick in den Badezimmerspiegel zeigte mir einen Mann von vielleicht fünfzig Jahren mit graumeliertem langem Haar. Buschige Augenbrauen. Hakennase. Volle Lippen. Wie im Traum berührte ich meine Wange, befühlte ihre bartstoppelige Oberfläche. Der Mann im Spiegel tat es mir gleich. Ich sah einem völlig Fremden in die Augen. Von mir aus hätte ich alles sein können. Ein Banker, ein Straßenpenner, ein Politiker, ein Müllmann. Das Gesicht eine leere Fläche tausender Lebensentwürfe und Möglichkeiten. War es denn wirklich wichtig, wer ich war? Oder sollte ich nicht die Möglichkeit nutzen, der zu sein, der ich immer sein wollte? Würde ich bei dem Versuch nicht wieder zu dem werden, der ich einst war?
     
    *
     
    Stundenlang starrte ich auf die weiße Wand in der Hoffnung, Formen und Muster zu sehen. Teile meiner Erinnerung. Doch die Wand blieb weiß. Sie schien mich zu verspotten.
    Die Tür ohne Griff öffnete sich. Ich drehte mich um, um meinen ersten Besuch zu empfangen. Zwei Krankenschwestern traten ein, ohne ein Wort an mich zu richten. Sie nickten mir kurz zu, und machten sich dann an ihre Arbeit. Die eine wechselte mein Bettlaken, die andere stellte ein Tablett mit Essen auf dem kleinen Tisch ab. Ein neutrales weißes Plastiktablett. In Folie eingeschweißtes Einweggeschirr aus Plastik. Eine Plastikflasche, die eine durchsichtige Flüssigkeit enthielt.
    „ Wo bin ich hier?“
    Schweigen.
    „Warum werde ich eingesperrt?“
    Schweigen.
    „Wollt ihr nicht mit mir reden?“
    Sie wollten nicht. Verrichteten monoton ihre Arbeit. Wahrscheinlich fragte ich die Falschen. Sie waren nur Handlanger, die nicht mehr wussten, als man ihnen sagte. Oder Nonnen, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten. Konnte das des Rätsels Lösung sein? Ich war in einem Kloster, wurde gesund gepflegt. Nonnen umschwirrten mich und lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab. Bald würde ich genesen sein.
    Jede Hoffnung war mir recht und billig. Weinend verzehrte ich mein Abendessen. Mein Talent zur Selbsttäuschung war nicht so ausgeprägt, wie ich gedacht hatte. Kaum hatte ich den letzten Bissen zerkaut, da überfiel mich eine bleierne Müdigkeit. Ich fiel vom Stuhl, die Welt legte eine Dreivierteldrehung hin. Mein Sichtfeld verwandelte sich in ein sinkendes Schiff. Passagiere rutschten das Achterdeck hinunter in die tosende See. Mit letzten Kräften zog ich mich an meinem Bett hoch und legte mich schlafen.
     
    *
     
    Ich durfte dem Essen hier drin nicht trauen. Irgendwas mischten die mir rein, was mir die Füße wegzog. Das Denken fiel schwerer. Auch nach dem Aufstehen fühlte ich mich wie schwer verkatert. Es zerrte an meinen körperlichen Kräften. Genau das wollten sie doch. Warum gerade ich? Warum war ich so wichtig? Ich erinnerte mich nicht an mich. Nachts träumte ich von der Stadt (oder träumte die Stadt mich?). Ich schloss die Augen und sah ihre kleinen Leben. Nicht einmal meine Träume waren meine eigenen. Ich hatte keine Erinnerungen und keine Träume. Alles hatten sie mir genommen. Nacht für Nacht vergewaltigten sie mich, missbrauchten meinen Schädel für ihre gemeinen Leben und Lügen. Soviel Bosheit. Ich war nicht ihr Messias. Der ihnen alle ihre Leiden abnahm. So nicht, meine Lieben, so nicht. Lasst mich in Ruhe, hört ihr mich?
     
    *
     
    Die Neonsonne ging auf, ein neuer Tag begann. Ich erwachte. Der künstliche Rhythmus war mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Ich erwischte mich selbst dabei, wie ich an manchen Tagen im Dunkeln aufwachte, und wenige Sekunden später das Licht anging. Mein Körper hatte sich daran gewöhnt. Genauso wie ich müde wurde, wenn das Licht erlosch. Sie simulierten mir sogar eine Abenddämmerung, wahrscheinlich mit Hilfe eines Dimmers und einer Zeitschaltuhr. Aber konnte ich denn überhaupt den Tagen trauen? Waren sie immer gleich lang? Ich besaß keine Uhr. Wenn sie mir die Nacht für den Tag vormachen würden und den Tag für die Nacht, ich würde es noch nicht einmal bemerken. Im Mittelalter glaubten die Menschen, die Welt wäre eine Scheibe, weil genau das ihrer Wahrnehmung entsprach. Ich besaß keine Beweise, dass sie mich in dieser Form manipulierten. Von Menschen, die einen einsperrten, sollte man stets das Schlechteste annehmen.
    Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Meine ersten Vermutungen, ich
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