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Babkin, unser Väterchen

Babkin, unser Väterchen

Titel: Babkin, unser Väterchen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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niemals so freigiebig sein wie Wadim Igorowitsch. »Aber so ist es, meine Lieben: Wen Gott liebt, den will er an seiner Seite sehen …«
    »Da reden Sie offensichtlich Widersprüchliches, Väterchen Sidor«, fing Pyljow, der Lehrer, einen uralten Streit wieder an. »Von den Hundertjährigen heißt es: Gottes Gnade schenkt ihnen ein langes Leben. Aber nach Ihrer jetzigen Behauptung müßte Gott die Hundertjährigen durch ein langes Leben bestrafen …«
    »Man soll das ökonomisch sehen, Genosse Pyljow. Ökonomisch!« Väterchen Sidor hob den extrem langen Zeigefinger. Er war wirklich außergewöhnlich groß, was wohl seinen Ursprung darin hatte, daß Waninow jahrzehntelang mit erhobenem Zeigefinger seine Predigten begonnen und ihn dadurch zum ständigen Wachstum angeregt hatte. So wenigstens glaubten es die Bürger von Ulorjansk, versanken im Gebet und wagten nicht den Kopf zu heben, wenn Waninow ihnen mit seiner Baßstimme ihre Sünden vorhielt.
    Boris Witalowitsch Pyljow wäre kein Lehrer gewesen, wenn er diese Erklärung des Popen so ohne weiteres hingenommen hätte. »Was heißt ökonomisch?« fragte er.
    »Das weiß doch jeder.« Waninow aß mit Genuß den gefüllten Blini und sah Pyljow strafend an. »Du als Lehrer …«
    »Soll das bedeuten, daß Wadim Igorowitschs früher Tod für uns alle etwas Gutes bringt?«
    »Was sollen diese Fragen?« mischte sich Nina, die Witwe, ein. »Väterchen ist tot, liegt nebenan selig zwischen den Kerzen, und wir wollen ihm danken, daß er ein so gutmütiger Mensch gewesen ist.«
    Hier hätte man eigentlich widersprechen müssen, aber – das ist nun mal der Brauch – über einen Toten soll man nichts Schlechtes reden, auf keinen Fall solange nicht, wie er noch in seinem Sarg über der Erde liegt. Der sichtbare Tod veredelt … Hinterher, wenn die Erde auf ihm liegt, kann man den Verstorbenen getrost einen Hurenbock nennen.
    Bedrückt und wortkarg saß man also herum, bis abends der Schreiner und Sargmacher Igor Grigorjewitsch Mischin erschien, einen Schreibblock unter dem Arm und einen Zollstock in der Rocktasche. Stumm vor Trauer umarmte er Nina Romanowna, küßte sie, ging dann weiter von Hinterbliebenem zu Hinterbliebenem, wiederholte seine Umarmungen und Küsse und zog sogar Dr. Poscharskij an sich, der sich nicht wehrte. Auch der Arzt brauchte Trost, denn er wußte wirklich nicht, woran Babkin gestorben war. Das kann man natürlich nicht laut sagen, man muß es in sich hineinfressen, und so etwas tut weh. Glaubt mir das, liebe Genossen!
    »Wo … liegt er?« fragte Mischin fast flüsternd und ehrfurchtsvoll.
    »Natürlich im Schlafzimmer, wo sonst!« Nina, die frischgebackene Witwe, war ärgerlich. Ein Sarg nach Maß war Verschwendung, aber Babkin hatte das als einen seiner letzten Wünsche niedergeschrieben. › Ich möchte nach meinem Tod in einem maßgefertigten Sarg von Mischin begraben werden … ‹
    Das war ein Befehl, dem man sich nicht widersetzen konnte. Nina allerdings hielt diesen Wunsch für eine neue Schikane Babkins, denn so mußte man Wadim Igorowitsch noch mindestens drei oder vier Tage im Hause behalten; schneller war der Sarg auch von einem Künstler wie Mischin nicht herzustellen. Denn – so stand es geschrieben von Babkin – der Sarg sollte auch mit Schnitzereien versehen werden.
    »Glaubst du, wir bahren ihn auf der Ladentheke auf?« knurrte Nina böse. »Was kostet so ein maßgearbeiteter Sarg, Igor Grigorjewitsch?«
    »Das richtet sich ganz nach dem Geschmack, Genossin Babkina …« Mischin holte seinen Zollstock aus der Jackentasche. »Ja, nach dem Geschmack …«
    »Geschmack! Ist das zu glauben! Willst du etwa den Sarg mit Marmelade oder Honig einreiben? Hat Wadim dir gesagt, was er gerne mag? Buttercreme, das war's. Die aß er immer nachmittags zum Tee. Ein Sarg mit Buttercreme … hat man so etwas schon gesehen! Und da nennt ihr Babkin einen gutmütigen Menschen!«
    »Wer hilft mir?« fragte Mischin traurig und sah sich im Kreise um. »Wer erklärt es ihr? Genosse Pyljow, Sie als Lehrer, als gebildeter Mensch …«
    Pyljow holte tief Atem und versuchte, seine Worte vorsichtig zu wählen.
    »Mamuschka«, sagte er, sich herantastend. »Es geht nicht um Buttercreme, sondern um die Schnitzereien am Sarg.«
    »Die Schnitzereien – beschmiert mit Buttercreme!«
    »Ohne, Mütterchen …«
    »Wieso haben sie dann einen Geschmack?«
    »Man sagt das so in gewissen Kreisen. Geschmack ist eine Art von Kultur. Er verrät anderen Menschen, was man
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