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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Autoren: Dror Mishani
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geöffnet wurde und ihm schon oft Erleichterung verschafft hatte. Aber er wollte dieses Zimmer nicht länger als sein Zuhause betrachten.
    Ilana schlug vor, dass er bis zum Beginn seines Urlaubs keine neuen Ermittlungen mehr zugeteilt bekäme, und er nickte zustimmend. »Warum, glaubst du, war dieser Fall so schwer für dich?«, fragte sie plötzlich.
    »Er war für uns alle schwer, oder?«, versuchte er auszuweichen.
    »Ja, aber für dich besonders.«
    Die Frage machte ihm auch zu schaffen, und noch hatte er keine Antwort darauf gefunden. Vielleicht aufgrund der geografischen Nähe, vielleicht wegen des Gefühls, die Kontrolle verloren zu haben.
    »Meiner Meinung nach sind es deine Schuldgefühle«, erklärte Ilana. »Vom Beginn der Ermittlung an hast du dich Ofer und seinen Eltern gegenüber schuldig gefühlt, und das hat dich daran gehindert zu sehen, was sich tatsächlich dort ereignet hat. Und am Ende, nun gut, du weißt ja, was am Ende geschehen ist.«
    Er hatte nicht das Gefühl, es zu wissen. Und er dachte außerdem, dass Ilana sich irrte und die Schuld nicht das Problem gewesen war. Aber er wollte nicht mit ihr über sich reden und fragte, was bei der Staatsanwaltschaft in Bezug auf Hannah Sharabi entschieden worden war. Er erfuhr, dass sie nach Hause entlassen worden war. Und noch stand nicht fest, in welcher Form Anklage gegen sie erhoben würde, wenn überhaupt. Die Kinder waren vorerst wieder bei der Mutter. Ilana berichtete ihm, Maaluls Befragung des befreundeten Paars, mit dem sich Ofers Eltern am Abend der Tragödie getroffen hatten, habe erbracht, dass Hannah Sharabi wohl tatsächlich erst nach ihrem Mann in die Wohnung zurückgekehrt war und nicht mit ihm zusammen. Doch wie auch immer, das sei noch kein Beweis dafür, dass sie sich nicht in der Wohnung aufgehalten hatte, als Ofer getötet worden war.
    All das interessierte ihn schon nicht mehr. Er hatte keine Worte, und ein Gutteil ihres Treffens schwiegen sie.
    »Hast du vor wegzufahren?«, fragte Ilana schließlich.
    »Wohin denn? Ich bleib zu Hause. Vielleicht schaffe ich es endlich, ein bisschen aufzuräumen.«

    Als er zurück auf dem Revier war, versuchte er, jemanden von der IT -Abteilung an den Hörer zu bekommen, doch ohne Erfolg. Auf der Homepage der Polizei musste Ofers Bild von der Vermisstenseite gelöscht werden. Der schmächtige Junge mit dem schwarzen Oberlippenflaum schaute ihn vom Bildschirm aus an. Auch andere Vermisste starrten ihn von kleinen Bildern an. Einige Fälle waren schon sehr alt. Es gab dort Jungen und Mädchen, die 2008, 1996 oder 1994 zuletzt gesehen worden waren.
    Er vergrößerte eines der Konterfeis.
    »Vor- und Zuname: Michael Lutenko. Geschlecht: männlich. Geburtsjahr: 1980. Sprachkenntnisse: Russisch. Weitere Sprachkenntnisse: Hebräisch. Größe: 1,73 Meter. Besondere Merkmale: keine. Körperbau: hager. Hautfarbe: hell. Wohnort: Ramat Gan. Zuletzt gesehen in: Ramat Gan. Vermisst seit: 23.6.1997.«
    An der Tür zu seinem Büro klopfte es verhalten. Lital Levi, die junge Kollegin, die ihn an seinem Geburtstag angerufen und von dem anonymen Anruf zu Ofer unterrichtet hatte, kam herein und sagte: »Jemand hat das für Sie abgegeben.« Sie reichte ihm einen braunen Umschlag, auf dessen Rückseite mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben stand: Für Inspektor Avi Avraham .
    »Ist er noch da?« Avraham Avraham war aufgesprungen. Noch während sie den Kopf schüttelte, stürmte Avraham Avraham bereits aus dem Revier. Seev Avni war nirgendwo mehr zu sehen.
    Avraham las den Brief auf den Stufen zum Portal des Reviers sitzend und rauchte eine Zigarette. Avni schrieb:

    Inspektor Avraham, seien Sie gegrüßt!
    Sicher werden Sie überrascht sein, einen Brief von mir zu erhalten. Um ehrlich zu sein, ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, Ihnen zu schreiben, bis ich die Zeitungsartikel über Ofer Sharabi gelesen und verstanden hatte, dass auch ich einen Schlussakkord in dieser Angelegenheit benötige. Klar ist, dass dieser Abschnitt meines Lebens mich immer begleiten wird, aber ich möchte weitergehen, genau wie auch Sie weitermachen. Am liebsten würde ich mich mit Ihnen treffen, nicht bei der Polizei, sondern an einem angenehmeren und freundlicheren Ort, und das Gespräch, das ich mit Ihnen zu führen gehofft hatte, fortsetzen oder, eigentlich, endlich beginnen. Aber da dies unrealistisch ist (habe ich recht?), bin ich gezwungen, Ihnen einen Brief zu schreiben, was gewiss eine symbolträchtige (mancher würde sagen:
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