Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ave Maria - Roman

Ave Maria - Roman

Titel: Ave Maria - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
gefüllt.«

112
    Der Pförtner Mac, der aussah, als lebe er im Keller des Krankenhauses, brachte mir zwei Kartons aus dem Archiv.
    Darin waren Schreibhefte, wie Kinder sie in der Schule benutzt haben, die in den fünfziger Jahren groß wurden. Mary Constantine hatte während der Jahre hier weit mehr geschrieben, als ich an einem Tag lesen könnte. Später teilte man mir mit, ich könne die gesamte Sammlung requirieren.
    »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich zum Pförtner Mac.
    »Kein Problem«, meinte er. Ich fragte mich, wann und wie die Antwort »Bitte« aus der Sprache verschwunden war, sogar hier im ländlichen Vermont.
    Im Moment wollte ich nur ein Gespür dafür bekommen, wer Mary Constantine war, insbesondere wie die frühere Mary zu der Mary passte, die ich schon kannte. Zwei Kartons würden für den Anfang genügen.
    Ihre Schrift war präzise und sehr ordentlich. Jede Seite war fein säuberlich eingeteilt, die Ränder waren gleichmä ßig leer. Nirgends Gekritzel zu sehen.
    Worte waren ihr Medium, und daran hatte sie keinen Mangel. Die Zeilen verliefen rechts ein wenig nach unten, als hätten sie es eilig, dorthin zu kommen, wohin sie wollten.
    Die Wortwahl klang unheimlich vertraut.
    Die Sätze waren kurz und abgehackt. Typisch für Mary Smith. Spürbar war auch das Gefühl der Isolation. Dieses war überall im Heft deutlich zu sehen.
    Auf einigen Seiten schien sie nur durch, auf anderen war sie direkt an der Oberfläche.

    Ich bin hier wie ein Geist. Ich weiß nicht, ob es jemanden kümmert, ob ich bleibe oder weggehe. Oder ob sie überhaupt wissen, dass ich hier bin.
    Lucy ist die Ausnahme. Lucy ist so freundlich zu mir. Ich weiß nicht, ob ich für sie je so eine gute Freundin werden kann, wie sie für mich ist. Ich hoffe, sie geht nicht weg. Ohne sie wäre es hier nicht dasselbe.
    Manchmal glaube ich, dass sie die Einzige ist, die wirklich etwas für mich übrig hat. Oder mich kennt. Oder mich sehen kann.
    Bin ich für alle anderen unsichtbar? Das frage ich mich wirklich - bin ich unsichtbar?
     
    Während ich die Aufzeichnungen durchblätterte und wahllos einzelne Abschnitte las, schälte sich für mich langsam ein Bild von einer Frau heraus, die ständig beschäftigt war, während sie sich in der Psychiatrie aufhielt. Für Mary lief ständig das eine oder andere Projekt. Sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben. Sie hatte sich wie eine gute Hausfrau nützlich gemacht, soweit das in dieser Umgebung möglich gewesen war.
     
    Heute machen wir Papierketten für den Tagesraum. Ein bisschen kindisch, aber sie sind hübsch. Das wird Weihnachten hübsch aussehen.
    Ich habe den Mädchen gezeigt, wie man sie macht. Fast alle haben mitgemacht. Ich liebe es, ihnen Dinge beizubringen. Jedenfalls den meisten.
    Diese Roseanne aus Burlington stellt meine Geduld manchmal furchtbar auf die Probe. Ehrlich, das tut sie. Heute hat sie mir in die Augen geschaut und mich gefragt, wie ich heiße. Als ob ich ihr das nicht schon tausend Mal
gesagt hätte. Ich weiß nicht, für was für einen Jemand sie sich hält. Sie ist ebenso ein Niemand wie wir übrigen.
    Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte, deshalb habe ich einfach überhaupt nicht geantwortet. Soll sie doch ihre eigenen Dekorationen machen. Geschieht ihr recht. Am liebsten würde ich Roseanne eine runterhauen. Aber das werde ich nicht tun, oder?
     
    Jemand und Niemand . Diese Worte und diese Idee waren mehr als ein Mal in den E-Mails in Kalifornien aufgetaucht. Dass ich sie hier las, sprang mich wie ein Identifizierungsschild an. Mary Smith war von Jemanden besessen gewesen - hochkarätige perfekte Mütter, die sich haushoch gegen den negativen Raum ihres eigenen Niemand -Seins abhoben. Etwas sagte mir, dass ich - sofern ich weitersuchte - das als ein durchgehendes Thema auch für Mary Constantine finden würde.
    Allerdings fehlte mir jede Erwähnung ihrer Kinder. Im Zusammenhang lasen sich die Tagebücher wie eine Chronik der Verleugnung. Die Mary, die hier im Krankenhaus gelebt hatte, schien keine Erinnerung an sie aufzuzeichnen, als wisse sie gar nicht von ihrer Existenz.
    Und die Frau, die als Mary Wagner lebte - die Frau, zu der Mary Constantine geworden war -, konnte an nichts anderes als an diese Kinder denken.
    In beiden Leben gab es einen gemeinsamen roten Faden: Das völlige Fehlen des Bewusstseins, dass Brendan, Ashley und Adam ermordet wurden.
    Die As und Bs.
    Zu diesem Punkt konnte ich nur Hypothesen aufstellen, aber ich hatte den Eindruck, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher