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Ausgespielt

Ausgespielt

Titel: Ausgespielt
Autoren: Sue Grafton
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wodurch mir Zeit blieb, zur zweiten Tür hinüberzugehen. Ich nahm meinen Schuh aus dem Türspalt und schlüpfte genau in dem Moment in den Zählraum, als sich die Tür zum Flur schloss. Die Tür zum Zählraum glitt kaum eine Sekunde später zu, und ich war in Sicherheit. Zumindest vorübergehend.
    Martys Leiche war immer noch da.
    Ich schaltete auf Verdrängen und blendete sämtliche
    emotionalen Reaktionen aus. Dafür war jetzt der falsche Zeitpunkt. Den Schuh warf ich beiseite, da ich es nicht wagte, mir die Zeit zu nehmen, ihn wieder anzuziehen. Ich musterte die an der Wand angebrachte Leiter und begann dann, sie
    hinaufzusteigen, mit einem beschuhten und einem unbeschuhten Fuß. Ich wusste, dass sich die Falltür am oberen Ende zum Dach hin öffnete. Dort angelangt, würde ich mich entweder verstecken oder mich über die Brüstung lehnen und so lange schreien, bis die Polizei kam. Vielleicht waren die Cops ja bereits im Anmarsch – normale Beamte der Polizei von Santa Teresa, ein Sondereinsatzkommando sowie Unterhändler für Geiselnahmen – allesamt in schusssicheren Westen.
    Ich riskierte einen Blick auf Marty, der nach wie vor gefesselt auf dem Stuhl hing. Warum hatten die Typen Becks Anweisung nicht befolgt? Statt Marty wegzuschaffen, hatten sie ihn hier sitzen lassen. Meine Hände waren schweißnass, trotzdem riskierte ich einen zweiten raschen Blick nach unten und bemerkte dabei etwas, was mir zuvor entgangen war. Die Zählund Bündelmaschinen standen nach wie vor auf der
    Arbeitsfläche, doch das Geld war weg. Anstatt die Leiche wegzubringen, hatten die Gorillas die Kohle zusammengepackt 432
    und abtransportiert.
    Auf der obersten Sprosse angelangt, griff ich nach der Klapptür direkt über meinem Kopf. Ich fand weder ein Schloss noch einen Knopf, noch sonst irgendetwas, mit dem man sie hätte öffnen können. Mit der Hand fuhr ich über die gesamte Fläche, auf der Suche nach einem Haken oder einem Griff, nach irgendeinem Hebel, mit dem man sie aufbekam. Nichts. Ich klammerte mich an die oberste Sprosse, bemüht, nicht abzustürzen, während ich versuchte, die Finger in den Spalt zu schieben. Mit der flachen Hand schlug ich dagegen, ehe ich drückte, so fest ich konnte.
    Unter mir ging die Aufzugtür auf. Ich legte den Kopf gegen die Leiter und hielt den Atem an.
    »Die Tür ist verschlossen, also können Sie gleich wieder runterkommen«, sagte Beck im Plauderton. »Reba ist schon unterwegs. Sobald wir uns geeinigt haben, dürfen Sie gehen.«
    Ich sah zu ihm hinab. Er trug seinen Regenmantel und war offenbar bereit zur Abreise. Die Pistole hielt er in der Hand und zielte damit direkt auf mich. Vermutlich hatte er keine Ahnung, wie viel Druck genau erforderlich war, um den Abzug
    auszulösen. Falls er mir versehentlich den Kopf wegpustete, wäre ich aber trotzdem tot. Er bückte sich und hob meinen Schuh auf.
    »Kommen Sie«, lockte er, während er mit der Pistole wedelte.
    »Ich will Ihnen nichts tun. Es ist bald vorbei. Jetzt ist der falsche Moment zum Ausbüxen, wo wir so kurz vor dem Ziel stehen.«
    Langsam stieg ich hinunter, indem ich zuerst mit dem Fuß nach jeder Sprosse tastete, da ich auf einmal Höhenangst bekommen hatte. Ich überlegte, ob ich einfach loslassen und mich auf ihn fallen lassen sollte, doch dabei würde ich mich nur selbst verletzen, ohne eine Garantie dafür zu haben, dass er überhaupt in Mitleidenschaft gezogen wurde. Geduldig sah er 433
    mir zu, bis ich unten angelangt war. Wahrscheinlich sah er lieber mich an als Marty. Allerdings schien es ihn nicht weiter zu stören, dass die Leiche nicht weggeschafft worden war.
    Er lächelte verhalten. »Guter Versuch. Fast hätten Sie mich drangekriegt. Ich dachte, Sie seien in die andere Richtung gelaufen …«, sagte er und reichte mir meinen Schuh. Ich verschnaufte, lehnte mich gegen die Wand und zog ihn an.
    Er nahm mich am Ellbogen und zog mich durch den
    Lastenaufzug in den Flur. Er hatte Recht. Es war fast vorbei, also hatte es keinen Sinn, meinen Hals zu riskieren. Schließlich hatte das alles nichts mit mir zu tun. Ich ging in die Hocke und ließ mir Zeit beim Binden meines Schuhs. Beck verlor zwar langsam die Geduld, aber ich wollte nicht mit offenen Schnürsenkeln losmarschieren. Erneut packte er mich am Ellbogen und führte mich um die Ecke zu den öffentlichen Aufzügen. Seine Aktentasche hatte er im Flur stehen lassen.
    Nun hob er sie auf und drückte mit dem Knöchel seines Zeigefingers den Rufknopf. Der Aufzug musste
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