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Ausgesaugt

Ausgesaugt

Titel: Ausgesaugt
Autoren: Charlie Huston
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nicht gedacht, dass er so schwer zu finden sein würde. Als er in den Freedom Tunnel rannte, war er mit dem Blut des Krüppels förmlich durchtränkt; ziemlich unwahrscheinlich, dass ich diese Spur verlieren würde. Ich wollte ihm ganz gemütlich hinterherschlendern und ab und zu gegen einen Schrotthaufen treten, damit er auch mitkriegt, dass ich komme. Ich rechnete fest damit, dass er irgendwann vor Erschöpfung stehen bleiben und sich in eine dunkle Nische kauern würde. Das Komplizierteste an der Sache wäre die Entscheidung, ob ich ihn aus seinem Versteck zerren und dabei ein paar Schnittwunden riskieren sollte oder ob ich mir irgendetwas suchen würde, das ich ein paarmal in die Nische ramme, um ihm damit den Schädel einzuschlagen.
    Aber dann hat er in Kloake gebadet.
    Keine Ahnung, ob er das geplant hat. So, wie er vorhin ausgeflippt ist und den Krüppel zugerichtet hat, hätte ich eher vermutet, dass strategisches Vorgehen nicht gerade seine Stärke ist. Andererseits hat er sich, gleich nachdem er den U-Bahn-Tunnel verlassen hat, in einem verstopften Kanal in einer Abwasserpfütze gewälzt. Danach konnte ich ihn nicht mehr wittern.
    Vorher roch der Typ nach Schlachthof. Jetzt duftet er wie ein wandelndes Dixie-Klo. Und so ziemlich alles andere unterhalb Manhattans stinkt genauso.
    Das machte die Sache nicht einfacher. Der clevere kleine Pisser hat mitbekommen, dass ich ihm nicht unmittelbar auf den Fersen bin, und hat die Zeit zum Ausruhen genutzt. Hat sich einigermaßen beruhigt, seinen Atem unter Kontrolle gebracht, das Keuchen und Stolpern eingestellt, immer wieder Verschnaufpausen in ruhigen Ecken eingelegt und gelauscht. Der kleinste Lichtschein hätte genügt, und ich hätte ihn mit ein paar Steinwürfen niedergestreckt. Manchmal gibt es hier unten die irrsten Reflektionen. Das Sonnenlicht fällt durch die Abflussgitter, ein Strahl trifft auf eine Rinne, bricht sich im Schmutzwasser, und plötzlich ist der ganze Tunnel in schwaches Licht getaucht. Genug Licht, damit ein normaler Mensch die Hand vor Augen erahnt.
    Ein Mensch wie ihr. Ich dagegen würde noch eine ganze Menge mehr sehen. Doch selbst mein Auge braucht ein Mindestmaß an Licht, das sich auf den Oberflächen der Dinge bricht und mich erkennen lässt, um was es sich handelt.
    Stattdessen bin ich völlig blind. Vielleicht ist oben gerade Nacht, keine Ahnung. Mein Zeitgefühl hat sich schon vor längerer Zeit verabschiedet. Früher hatte ich Morgendämmerung und Sonnenuntergang sozusagen im Blut. Aber wenn man von beiden ein paar Hundert verpasst hat, verliert man einfach jedes Gespür dafür.
    Der Typ vor mir sieht so wenig wie ich, kennt sich aber in der Kanalisation offenbar ziemlich gut aus. Weiß Gott, wie viele Jahre er schon hier unten ist. Wahrscheinlich seit seiner Kindheit. Seit irgendjemand es satthatte, ihn durchzufüttern, und er sich allein durchschlagen musste. Da ist ihm wohl irgendwann aufgegangen, dass es in der Kanalisation zwar dunkel, aber auch bedeutend ungefährlicher ist als auf der Straße. Hier unten, im Reich der Verlorenen, kippt niemand einen Benzinkanister über dir aus und zündet ein Streichholz an, nur um zu sehen, was dann so passiert. Klar, auch hier wird gemordet, aber nicht wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, wie wenn beispielsweise jemand in der falschen Abwasserrinne pennt. Meine Güte, hier haut sich jeder hin, wo es ihm gefällt. Die Leute hier unten müssen sich nichts beweisen. Wenn sie töten, dann aus gutem Grund. Für Brennmaterial. Eine Flasche Wein. Die guten Stiefel eines toten Mannes.
    Keine Ahnung, warum der Kerl, der vor mir Kohlenstoffdioxid ausatmet, den Krüppel umgebracht hat. Warum ich ihn verfolge, weiß ich hingegen sehr wohl.
    Weil er sich für sein Massaker ausgerechnet den Eingang zum Freedom Tunnel ausgesucht hat. Nicht weit von der Stelle, an der die Sprayer zusammenkommen, um die Graffiti zu bewundern, die die Betreibergesellschaft glatt zu überstreichen vergessen hat, als der Tunnel wieder für den Zugverkehr geöffnet wurde. Gut möglich, dass ein Sprayer alles mitangesehen hat, nach oben gelaufen ist und den Bullen in diesem Moment einen Mord im Tunnel meldet. Üblicherweise sind die Cops alles andere als scharf drauf, in der Kanalisation für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie vertrauen darauf, dass sich hier unten alles von selbst regelt. Doch wenn ein Student der schönen Künste an der Columbia Zeuge einer hässlichen Messerstecherei wird, wäre das durchaus ein guter Grund,
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