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Ausgeloescht

Ausgeloescht

Titel: Ausgeloescht
Autoren: Cody Mcfadyen
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und für einen Augenblick ist sie die Sonne.
     

Epilog
    Ich sitze in Leos Zimmer im Sessel und beobachte, wie seine Brust sich hebt und senkt. Es ist Abend, die Tür ist geschlossen, und wir sind allein.
    Wieder ist eine Woche vergangen. Vieles ist geschehen. Die Polizei hat die anderen Kerker gestürmt. Fünf Frauen wurden befreit. Die einen waren dankbar, andere werden sich nie wieder erholen. Mercy Lane hat ihnen etwas Grundlegendes, Substanzielles geraubt: die Sicherheit zu wissen, wie die Welt sich dreht. Diese Frauen waren zu lange in der Dunkelheit, als dass sie jemals wieder das Licht sehen werden.
    Heather Hollister jedoch erholt sich. Sie hat ihren Sohn in die Arme geschlossen und hat nicht die Absicht, ihn jemals wieder gehen zu lassen. Das Jugendamt scheint darüber genauso froh zu sein wie ich. Heathers Licht leuchtet mit jedem Tag heller.
    Ich fahre mir mit einer vierfingrigen Hand über den Kopf, führe sie am Gesicht herunter und spüre die Narben, die andere hinterlassen haben.
    Wer bin ich? Bin ich das Ergebnis eigener Entscheidungen oder ein Produkt dessen, was mir zugefügt wurde?
    Vielleicht trifft beides zu.
    Das Leben geht weiter. Manchmal träume ich, ich hätte Mercy erschossen. Ich sehe, wie Frontscheinwerferlicht über den Sand spielt, und höre, wie Schaufeln in die Erde gestoßen werden. Bonnie weiß, dass etwas geschehen ist, aber sie übergeht es, als könnte sie spüren, wann es besser ist, keine Fragen zu stellen. Baby ist einfach wieder ein Baby, kein fötaler Buddha, der auf einer Wiese hinter meinen Augen Weisheiten von sich gibt.
    Das Leben geht weiter. Morgen kehre ich ins Büro zurück. Alan ist stumm geblieben, und ich weiß nicht, wie ernst es ihm mit seiner Pensionierung ist. Ich muss abwarten und sehen, was wird. Die Pressekonferenz ist angesetzt, und ich blicke ihr mit gemischten Gefühlen entgegen.
    Das Leben geht weiter. In ein paar Monaten wird einer neuneinhalbfingrigen Mutter ein Kind geboren werden. Es wird Eltern bekommen, die beide getötet haben. Es wird eine uralte Dreizehnjährige zur Schwester bekommen und dazu eine Sammlung von leicht angeschlagenen Tanten und Onkeln, die erblinden, indem sie in die Dunkelheit spähen. Was bedeutet das für das Kind? Etwas Gutes? Etwas Schlechtes? Ich weiß es nicht.
    Ich habe viel über Mercy nachgedacht, während ich über die Seele sinnierte. Mercy Lane wurde beigebracht, dass sie nur Fleisch ist, doch es braucht mehr als das Abtrennen der Brüste, um aus einer Frau einen Mann zu machen. Was treibt einen Läufer, der sich von Schwäche bereits übergeben muss, immer weiter und weiter zur Ziellinie? Was bringt einen dazu, ein Kind zu lieben, das man noch nie gesehen hat?
    Was veranlasst einen Mann, seiner eigenen Tochter die Brüste abzuschneiden?
    Wenn ich die Augen schließe und mich an Matt und Alexa erinnere, an Mom und Dad, wenn diese gewaltige Woge aus Trauer und Liebe, Freude und Kummer mich durchläuft - was ist das? Ist es bloß eine chemische Reaktion? Empfinden Zellen Liebe? Oder ist etwas unendlich viel Schöneres daran beteiligt?
    Ich habe nicht alle Antworten, aber eines weiß ich: Ich habe Mercy Lane in die Augen geschaut, und ich habe meinem Mann in die Augen geschaut, und der Unterschied, den ich in diesen beiden Augenpaaren gesehen habe, könnte größer nicht sein.
    Diese Gewissheit ist es, die mich heute hierhergeführt hat. Wenn wir alle nur Fleisch wären, wenn ich
wirklich
daran glaubte, würde ich mich nicht verpflichtet fühlen, mein Versprechen Leo gegenüber einzulösen.
    Die Maschinen summen und flüstern. Seine Brust hebt und senkt sich.
    Wegen Leo und dem, was ich tun will, habe ich verzweifelt mit mir gerungen. Ich habe mir die wirklich schwierigen Fragen gestellt, habe geweint und gezweifelt. Ich habe mich ungeschminkt betrachtet, im grellsten inneren Licht, und bin dabei demütig geworden. Und ich habe zwar Antworten erhalten, aber nur wenig Frieden.
    Eines weiß ich nun: Wäre ich nicht schwanger gewesen, hätte ich beschlossen, mich von Mercy lobotomieren zu lassen. Ich wäre bereit gewesen, meinen Verstand sterben zu lassen, damit Leo Leo bleiben könnte. Ich bin eine Jägerin von Ungeheuern geworden, weil ich will, dass andere leben. Mich treibt die Verpflichtung an, sie zu schützen, und dieser Instinkt drängt mich schon, seit ich noch sehr jung war. Ich weiß nicht, woher er kommt - von Gott, aus meiner Seele, aus meinem Erbgut -, aber ich bin sicher, dass er existiert. Mercy hat mich
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