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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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schwören, dass ich mir damals keine Gedanken darüber gemacht habe.
    Wir lasen zwei Kapitel, und dann überzog ich die Zeit, bis um 17:30 Uhr die Hälfte der Mütter in Tennisröckchen die Treppe herunterhüpfte und die andere Hälfte mit ihren Kleinkindern aus der Bilderbuchabteilung kam. Ich fragte: »Wer ist der Held dieses Buchs?« Das war leicht. Es war immer die Hauptfigur. In Kinderbüchern gibt es selten einen Antihelden, einen unzuverlässigen Erzähler.
    Es schien, als habe Aaron seine Antwort schon tagelang geübt: »Matilda ist eigentlich die Heldin, aber Fräulein Honig ist auch eine Art Heldin, weil sie so nett ist.«
    »Wer ist der Bösewicht?«
    »Fräulein Knüppelkuh«, rief Tessa. »Obwohl sie die Schuldiktorin ist! Und Schuldiktorinnen sind normalerweise nett!«
    Ich sagte: »Ja, ich glaube, du hast recht.« Auch wenn der Bösewicht kein Mann mit einer schwarzen Maske ist, haben sie ein ziemlich gutes Gespür für Gemeinheiten. Und ein paar besonders gescheite Köpfe kapieren sogar, wie weit gefasst diese Kategorie sein kann.
    Tessa sagte: »Ein Bösewicht kann schließlich jeder sein, auch ein Hase in deinem Garten.«
    »Könnten es sogar die Eltern von einem Kind sein?«, fragte ich. Ich wollte, dass sie sich Gedanken über die bösen, fernsehsüchtigen Eltern von Matilda machten, die anderen Gegenspieler in diesem Buch.
    »Ja«, sagte Jake. »Zum Beispiel, wenn deine Mutter ein Gewehr hat.«
    Es waren kluge, moderne Kinder, und sie wussten: Eine Mutter konnte eine Hexe sein, ein Kind konnte kriminell sein. Eine Bibliothekarin konnte eine Diebin sein.

    Geben wir dem Ort des Verbrechens einen Namen: Hannibal, Missouri. (Natürlich gibt es irgendwo ein echtes Hannibal, das vom Twain-Tourismus und Flusswasser lebt. Ich will mir den Namen ja nur ausleihen.) Dieses Hannibal hatte keinen Fluss, aber eine Autobahn, die direkt durch die Stadt führte, und wenn jemand auf dieser Autobahn fuhr und nur McDonald’s und die Tankstellen, den Schmutz und den Autoqualm sah, würde er nichts von den eingezäunten Rasenflächen wissen, von den Schulen mit Fahnen, die nicht zerfleddert sind, von den großen Häusern im Westen und den kleineren im Osten mit Schottereinfahrten und glänzenden Briefkästen.
    Und es gab die Bibliothek, gleich neben der Hauptstraße, in der missglückten Backsteinarchitektur aus den 70er Jahren, die durch Schulanfangsbanner und drei hüfthohe, schmiedeeiserne Eichhörnchen kaschiert wurde. Edle Eichhörnchen mit in die Luft gereckten Köpfen bewachten die Rückgabestelle und den öffentlichen Eingang. Jedes Kind fühlte sich gezwungen, bevor es die schwere Eingangstür aufdrückte, die Eichhörnchen zu streicheln oder den Schnee von ihren buschigen Schwänzen zu wischen oder sogar hinaufzuklettern und sich auf den Kopf des größeren Eichhörnchens zu setzen. Alle meinten, das sei verboten. Wenn sie dann die Treppe zum Untergeschoss herunterdonnerten, hatten die Kinder rote Wangen. Sie gingen mit bunten, aufgeplusterten Anoraks an meiner Theke vorbei. Manche lächelten, manche schrien ihren Gruß laut heraus, andere mieden meinen Blick.
    Mit sechsundzwanzig Jahren war ich die Leiterin der Kinderbibliothek, nur weil ich bereit war, länger zu arbeiten als die beiden anderen (viel älteren) Frauen Sarah-Ann und Irene, die in der Bibliothek eine Art Ehrenamt zu sehen schienen, so etwas wie die Suppenküche.
    »Wir können uns glücklich schätzen, dass sie uns ihre Zeit widmen«, sagte Loraine. Das stimmte, denn sie waren oft damit beschäftigt, ganze Räume umzumodeln.
    Ich hatte vier Jahre zuvor das College beendet und wieder mit dem Nägelkauen angefangen, und mein Freundeskreis bestand aus zwei Freundinnen. Ich lebte allein, meine Wohnung war in einer Stadt in der Nähe. Eine einfache, jungfräuliche Bibliothekarin.

    Man beachte, fürs Protokoll, meine genetische Ausstattung, die eine leichte Veranlagung zu kriminellem Verhalten zeigt, eine angeborene Neigung zum Ausreißen und den bereits in den Chromosomen angelegten Garanten für lebenslange Selbstgeißelung.
    Was ich von meinem Vater erbte:
Eine Vorliebe für schlammdicken Kaffee.
Zwei knochige Wülste auf der Stirn, einen über jedem Auge, direkt unter dem Haaransatz. (Kein Geburtstrauma, kein Sturz, nur irritierte Krankenschwestern, die meine Augenbrauen rieben, und ein Vater, der seine Wülste als Erklärung vorzeigte. Wenn wir nicht die Bösewichte der Geschichte sind, wozu sind dann diese Familienhörner gut?)
Ein
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