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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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können, weil ich in Hannibal gelandet war. Ich hätte in einem Loft in Brooklyn leben oder vom Geld meines Vaters mit dem Rucksack durch Spanien reisen oder meine Doktorarbeit schreiben können. Aber ich bereute es nicht, zumindest nicht ganz, denn was den Reiz ausmachte, war die Zufälligkeit, diese anonyme, geistlose Zufälligkeit. Mein Vater hätte mir hundert gute Arbeitsplätze besorgt, zumindest »gut« in finanzieller Hinsicht. Er hätte auch die ausuferndste, nicht durch ein Stipendium geförderte, filmwissenschaftliche Diplomarbeit an der teuersten Universität des ganzen Landes finanziert.
    Doch vor vier Jahren, als ich meinen Abschluss in Englisch machte, hatte ich mich vehement geweigert, ihm zu sagen, ob ich überhaupt Aussicht auf einen Job hatte. In jenem April ging ich über den Campus zur Berufsberatungsstelle in die oberste Etage des Studentenzentrums, setzte mich in einen Sessel aus Weichplastik, bis mich eine Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte – eine Frau mit steifgesprühten weißen Haaren –, in ihr Büro bat und mir in Bezug auf das, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, eine Reihe verwirrender Fragen stellte. Sie konnte es kaum glauben, dass sich eine Studentin, die magna cum laude abgeschlossen hatte, so wenig darum kümmerte, wie es weitergehen sollte. Es endete damit, dass sie ihre Sekretärin eine fünfzigseitige Liste mit Adressen und Berufsbezeichnungen aller in der Datei vorhandenen Absolventen ausdrucken ließ, deren Berufe im weitesten Sinn irgendetwas mit Englisch zu tun hatten. Sie ging davon aus, dass diese Personen sich um einen der ihren kümmern und mir dabei helfen würden, einen Job zu finden. Ich hatte meinem Vater mit seinen Beziehungen bewusst den Rücken gekehrt und war nun doch etwas enttäuscht, fünfzig Seiten mit weiteren Beziehungen ausgehändigt zu bekommen. Doch zumindest waren es meine, nicht seine. Die Leute auf der Liste waren Lehrer, Tutoren, Übersetzer, Journalisten und technische Autoren. Loraine Best, Abschluss 1965, war eine der wenigen, die in einer Bibliothek arbeitete, doch das war nicht der Grund, weshalb ich sie anschrieb. Ich hatte mich einfach darangemacht, die Leute in alphabetischer Reihenfolge anzumailen. Bis zu den Semesterferien war ich von Aaronson bis Chernack gekommen, anschließend verbrachte ich drei Wochen mit Lernen und Biertrinken, trennte mich von meinem Freund und wartete. Das alphabetische Vorgehen, das niemanden diskriminierte, machte die Beziehungen weniger beängstigend, zufälliger. Wir Russen waren schon immer gut im Roulette.
    Ich hatte keinen Abschluss in Bibliothekswissenschaft, aber Loraine brauchte dringend eine Bibliothekarin für die Kinder- und Jugendbibliothek, nachdem bei meiner Vorgängerin Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden war. Sie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, die Stelle auszuschreiben, und als mein Brief kam, sah sie in ihm die Erhörung ihrer Gebete und stellte mich schon telefonisch ein. Mir wurde die Stelle angeboten, als ich in meinem Zimmer im Studentenheim saß, auf der oberen Koje des Etagenbetts, in Unterhose und einem Violent-Femmes-T-Shirt und in Wollsocken. Kate Phelps starb an Krebs, als ich im Juni desselben Jahres in die Stadt kam.
    Selbstverständlich hielt mir Loraine alle paar Wochen vor: »Ich habe dich engagiert, ohne dich gesehen zu haben, weil ich dachte, wenn ich eine Absolventin von Holyoke bekomme, würde mir das eine gewisse Arbeitsethik garantieren.«
    Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich als Bibliothekarin für Kinderbücher in einer kleinen Bibliothek in Missouri arbeiten würde, sagte mein Vater: »Ist es wegen eines Typen? Es gibt in Chicago eine Million netter Männer und viele von ihnen sind Russen. Irgendwann wirst du doch Bibliothekarin für Erwachsene sein wollen, oder? Ich sage das, weil du eine Herausforderung brauchst. Es gibt Universitätsbibliotheken, bei denen ich meine Beziehungen spielen lassen kann.«
    Meine Mutter sagte: »Zumindest bleibst du in einer Entfernung, die man mit dem Auto zurücklegen kann.« Da sie sonst nichts mehr sagte, verstand ich, dass es das Netteste war, das ihr einfiel.
    Später, noch im gleichen Herbst, nahm Ian am Wettbewerb der Kinderschreibwerkstatt teil. Fünf Minuten vor Anmeldeschluss kam er die Treppe herunter und händigte mir seine Geschichte aus, in einem Umschlag aus lila Bastelpapier, mit einer glänzenden gelben Hand, die aus einer Cornflakes-Schachtel ausgeschnitten war. Die
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