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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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leiser unterhalten konnten. Ich setzte mich neben sie auf einen Computerstuhl und sagte: »Ich muss dich etwas fragen.« Sie nahm eine große Plastikhaarspange aus ihrer Tasche, klemmte sie zwischen ihre Zähne und begann, ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden.
    »Hmm.«
    »Es geht um Ian Drake. Er ist in der fünften Klasse. Hast du ihn letztes Jahr unterrichtet?«
    »Nein«, sagte sie. »Ich glaube, er war bei Julie Leonhard. Aber seine Familie ist legendär. Ein Alptraum.«
    »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit seiner Mutter. Sie kommt hier herunter und sagt: ›Mein Sohn muss heilige Bücher lesen!‹ Ich habe ja immer eine Rede vorbereitet für solche Fälle, in denen ich im Alleingang die Meinungsfreiheit verteidigen muss. Und dann platzt sie hier herein, und die ganze Sache lief so dumm , ich hatte einen totalen Blackout.«
    »Ja, klar, die sind völlig verrückt.« Sie schaute sich wieder im Raum um, nur für alle Fälle. Das kleine Mädchen hatte den Farbstift hochgehoben und malte offenbar in der Luft. »Sehr religiös, das hast du bestimmt gemerkt. Die Mutter hatte, glaube ich, psychische Probleme, und sie ist definitiv anorektisch.«
    »Das ist mir nicht aufgefallen«, sagte ich. Ich versuchte mich zu erinnern. Ihr knochiges Aussehen hatte ich für einen Teil ihrer Persönlichkeit gehalten.
    »Das Gute dabei ist, dass Ian anscheinend nicht davon beeinflusst ist. Er kann sehr launisch und melodramatisch sein, aber das ist alles nur Theater. In Wirklichkeit ist er das glücklichste Kind der Welt. Letztes Jahr hat er im Frühjahrsmusical mitgemacht, da haben sie Cancan und solche Sachen getanzt. Er war der schlechteste Tänzer und ist über jeden gestolpert, aber auf seinem Gesicht war dieses große Showbusiness-Lächeln. Er war voll drin. Er wird immer alles schaffen, egal wie. Wenn er sich als Schwuler outen wird, dann wird die Kacke richtig am Dampfen sein, aber auch das wird er hinkriegen.«
    Ich lachte. »Meine Güte, damit muss doch mal Schluss sein.«
    Ehrlich gesagt, mein empörtes Beharren darauf, dass Ian asexuell war, war nicht ganz aufrichtig. Die Frage tauchte öfter in mir auf, besonders während der Phase, in der er Bücher über Möbelgeschichte las. Damals stellte ich mir oft vor, wie er eines Tages mit seinem Partner und seiner chinesischen Adoptivtochter zu Besuch kommen würde. Ich würde ihn fragen, wie es denn gewesen sei, in Hannibal aufzuwachsen, und er würde antworten, das Lesen habe ihm das Leben gerettet. Und auch wenn er nicht schwul sein würde, würde er mich besuchen, mit seiner süßen Frau und Zwillingssöhnen, die genauso aussehen würden wie er, und auch dann würde aus irgendeinem Grund der Part »Das Lesen hat mir das Leben gerettet« kommen.
    Drei Mädchen mit Rucksäcken kamen die Treppe herunter und winkten Sophie kichernd zu. Sie zog die Augenbrauen hoch und biss sich auf die Lippe, das hieß: Wir sollten aufhören zu reden.
    »Okay«, sagte sie, als die Mädchen vor dem Regal mit den Serien standen, »was ich brauche, sind Bücher über Lügen. Bilderbücher, Volksmärchen, alles, was du hast. Wir haben eine kleine Epidemie.«
    Ich fand für sie ein paar Geschichten über Abe Lincoln und ein chinesisches Märchen mit dem Titel Der leere Topf .
    »Ernsthaft, ich glaube, der Junge ist in Ordnung«, flüsterte sie, als ich die Bücher stempelte. »Aber du solltest seinen Vater sehen. Ich glaube, er ist wirklich schwul. Deshalb ist die Mutter unglücklich. Er verbirgt seine Homosexualität so verbissen wie ein heimlich schwuler Sänger in einer Boyband.« Sie rollte mit den Augen. »Schulde ich dir Geld?«
    »Klar«, sagte ich, gab ihr die Bücher und die Quittung.
    »Danke, Süße.« Sie grinste und klapperte mit ihren Schlüsseln, als sie die Treppe hinaufging.
    Mein Vater rief mich an jenem Abend ziemlich aufgebracht an. »In den Chicago-Nachrichten sind Bibliothekare aufgetaucht! Sie protestieren gegen das Anti-Terror-Gesetz!« Mein Vater hat einen russischen Akzent, den ich nicht bemerke, wenn ich mich von Angesicht zu Angesicht mit ihm unterhalte, dessen Reste ich aber am Telefon wahrnehme oder wenn er mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlässt oder wenn er seine Sprache mit amerikanischen Redewendungen aufpeppen will und zum Beispiel sagt: »Das hat mir ein Vögelchen geflüstert.« Das gibt mir etwas zu tun, wenn ich ihm nicht zuhören möchte. Alle anderen halten seinen Akzent für auffallend. »Sag, Lucy, ist die Regierung von
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