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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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revolutionäres Temperament, das bis zu meinem Urgroßvater, der Bolschewik war, zurückzuführen ist.
Einen halben Familiennamen, Hulkinow, von einem New Yorker Richter zu Hull gekürzt, was Hülle bedeutet, ein vergeudeter Witz, den mein Vater mit seinen Immigrantenohren nicht verstand, ein Flüchtling, nur eine Hülle seines russischen Selbst.
Blasse russische Haare, eine absolut nichtssagende Farbe.
Das Familienwappen, das mein Vater als Gravur auf einem Goldring den ganzen Weg von Moskau mitgeschleppt hatte; es zeigt einen Mann – in der rechten Hand ein Buch, in der linken einen abgeschlagenen Kopf auf einem Spieß. (Dieser berühmteste der Hulkinows war im 17. Jahrhundert ein Gelehrter und Krieger, ein Mann, der die fernen Trompeten hörte, seine Bücher verließ, für Gerechtigkeit oder Freiheit oder Ehre kämpfte. Und hier bin ich, die letzte in der Kette: eine Bibliotheksverbrecherin im 21. Jahrhundert.)
Tiefe russische Schuld.
    Was ich von meiner Mutter erbte:
Kilometerdicke amerikanisch-jüdische Schuldgefühle.
    Das sind der Schauplatz und die Hauptfiguren. Wir haben es uns in unseren Knautschsäcken gemütlich gemacht: Fangen wir an.
    (»Wo geht Papa hin mit dieser Axt?«, sagte Fern.)

2
    Ärger, direkt hier in River City
    Eine Frau kam eines Nachmittags, Anfang Oktober, allein die Treppe herunter. Sie trug eine Hose, Stöckelschuhe und eine braune Seidenbluse. Offensichtlich eine Mutter, keine schmuddelige Lehrerin, kein Kindermädchen und auch keine Privatlehrerin.
    Sie war schön, die roten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der nicht so dünn und traurig herunterhing wie meiner, sondern dick war wie ein echter Pferdeschwanz. Sie legte ein Buch auf die Theke. Ihre silbernen Ohrringe schwangen rhythmisch hin und her. Ich hatte sie nie zuvor gesehen.
    »Sind Sie beschäftigt?«
    Ich schraubte meinen Kugelschreiber zu und lächelte. »Klar. Nein.«
    »Ich bin Ians Mutter.«
    »Wie bitte?« Ihr Augenkontakt war so intensiv, dass ich sie nicht richtig verstand.
    »Mein Sohn ist Ian Drake.«
    »Oh, Ian. Ja, natürlich. Womit kann ich Ihnen helfen?«
    Es verblüffte mich, dass ich ihr nie zuvor begegnet war. Und dass ich nie darüber nachgedacht hatte, noch nicht einmal bei den Diskussionen darüber, welche Bücher seine Mutter durchgehen lassen würde und welche nicht. Als Ian jünger war, kam er immer mit einem Kindermädchen. Jetzt kam er oft allein, mit dem Fahrrad, und auf dem Rücken einen Rucksack, um die Bücher zu verstauen.
    »Also, er hat diesen Roman nach Hause gebracht. Die Unsterblichen ! « Sie schob das Buch in meine Richtung, als sollte ich es näher betrachten. »Und ich bin sicher, dass es ein wunderbares Buch für etwas ältere Kinder ist, und wir schätzen Ihre Empfehlungen wirklich sehr . Er ist nur etwas sensibel.« Sie lachte und beugte sich vor. »Was Ian jetzt wirklich braucht, sind Bücher, in denen der Atem Gottes zu spüren ist.«
    »Der Atem Gottes.«
    »Ich weiß, Ihre Aufgabe ist es, ihren Geist zu füttern, aber wir brauchen auch Lesestoff, der die Seele füttert. Das braucht jeder von uns.« Sie lächelte, ihre Augenbrauen hoben sich. »Und Ian ist noch so jung, er braucht Ihre Hilfe. Ich gehe davon aus, dass Sie das hinkriegen, Sarah-Ann.«
    Ich musste sie mit offenem Mund angestarrt haben, bis ich sah, dass ich Sarah-Anns Namensschild auf der Theke stehenlassen hatte. Ich fühlte mich seltsam geschmeichelt, weil Ian ihr meinen Namen nicht gesagt hatte, dass unsere täglichen Gespräche etwas waren, was er für sich behalten wollte. Ich hatte nicht vor, sie zu korrigieren. Wenn sie dachte, Sarah-Ann Drummond sei dafür zuständig, Bücher mit dem Atem Gottes auszuwählen, konnte es mir nur recht sein.
    Ich lächelte, sie sollte das Gefühl haben, verstanden zu werden. »Da wir eine öffentliche Bibliothek sind, zensieren wir die Bücher eigentlich nicht, was unsere Stammleser betrifft. Unsere Aufgabe ist es, alles verfügbar zu haben. Aber natürlich können Eltern die Auswahl für ihre Kinder treffen.« Ich hätte das lang und breit weiter ausführen können, aber ich merkte, dass ich mich zurückhielt. Ich wollte sie nicht erschrecken, sie sollte Ian nicht verbieten, in die Bibliothek zu kommen. Obwohl ich im Allgemeinen nichts davon hielt, dass Kinder ohne Begleitung in die Bibliothek kamen, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Ians Leseerfahrung von einer Mutter gefördert wurde, die ihm über die Schulter schaute, um sich zu vergewissern, dass alle
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