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Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Autoren: Andreas Scheffler
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die beiden mit einer Flasche Wodka hantierten. Sie reichten sich die Flasche Gorbatschow zu, einen nicht besonders guten, aber sehr wirkungsvollen Schnaps, tranken jeder einen Schluck und hielten inne. In diesem Augenblick dachte ich einen Satz, den auch Thomas Mann schon einmal gedacht hatte, übrigens auch in einer Bahn, allerdings einer Eisenbahn; ich dachte: »Das geht nicht gut, das geht nicht gut, das geht keinesfalls gut.« Wir alle kennen sie, die Maßlosigkeit der Pubertierenden, ihre Grenzenlosigkeit in allen Gefühlsdingen, sei es bei Liebeskummer, Problemen mit der Lehranstalt oder Konflikten zwischen den Generationen. Immer ist die seelische Angegriffenheit gleich eine existenzielle Frage. Häufig wird der Alkohol herangezogen, um den nagenden Kummer im Gemüt zu betäuben, und immer ist die Folge eine unwürdige Vorstellung. Wir wissen das aus eigener, zuweilen noch heute Scham auslösender Erfahrung. Und nun das mögliche Schauspiel hier in diesem Waggon! – Es ist schlimm, Menschen bei etwas zu beobachten, das ihnen in zehn Jahren peinlich sein wird; noch schlimmer aber ist zu befürchten, es könnte ihnen auch in zehn Jahren noch nicht unangenehm sein.
    »Das geht nicht gut«, dachte ich und sah noch immer hinüber. Und ich wurde auf erlösende Weise beruhigt, wie ein Krampf in der Wade, der plötzlich auf wundersame Weise der Normalität weicht. Die beiden Jugendlichen nahmen nicht Hieb auf Hieb des hochprozentigen Schnapses. Nein, sie hielten inne und sprachen vernünftig miteinander. Ich konnte verstehen, wie der andere sagte, jetzt sei es auch mal genug mit dem Alkohol, er habe keine Lust mehr. Der eine entgegnete, dass man ruhig ab und zu mal einen trinken könne. Aber eben nur ab und zu. Die beiden hatten meine volle Sympathie. Und ich hatte vorher auch bereits ihre gewonnen.
    »Vanitatum vanitas et omnia vanitas.« Und nun, dies muss ich unumwunden zugeben, gewann die Eitelkeit Herrschaft über mich. Ein, wie die Intoleranz, sicher unschöner Wesenszug, aber doch, wie ich meine, eine eher lässliche Sünde. Ich wollte die Sympathie der jungen Leute für mich noch steigern, ihnen die Versicherung geben, dass ich ihnen wohlwollte. Wenige Minuten vor meinem Umsteigebahnhof ging ich mit dem Staropramen in der Hand zur Ausgangstür gerade neben den zwei disziplinierten Zechern. Fröhlich fragte ich den mit dem Wodka, auf die Flasche deutend: »Krieg ich auch einen Schluck?« Er schaute kurz erstaunt und reichte mir dann den Schnaps. Entschlossen nahm ich einen kräftigen Zug, bedankte mich und gab die Flasche zurück. Die Reaktion war erstaunlich und übertraf meine Erwartungen bei Weitem. »Ey, du bist cool, Mann, echt!« Seine Begeisterung kannte keine Grenzen. Dieser junge Mann war überwältigt, weil ich, ein Erwachsener, ihn um einen Schluck Schnaps gebeten hatte, statt ihn von oben herab zu tadeln. »Schlag ein, Mann«, sagte er, hielt mir seinen Arm hin, und ich schlug meine Handfläche auf seine. »Echt cool, ey! Und fährst du jetzt zu deiner Frau?« Ich bejahte. »Das hab ich mir gedacht. Echt cool, Mann!« – »Tschüss«, sagte ich beim Aussteigen, die beiden riefen: »Machs gut, Alter!«, was ich unter anderen Umständen als ungebührlich betrachtet hätte, heute aber als einen freundlichen Gruß auffasste.
    Auf dem Rest des Rückwegs gingen die Gedanken her und hin. Hatte ich mich richtig verhalten? Was war da mit mir durchgegangen? In einer heiteren Laune, beflügelt von einem befürchteten desaströsen Akt, der Gott sei Dank nicht stattgefunden hatte, war ich von der Gefallsucht geritten worden. Ich wollte mich als toleranter Erwachsener präsentieren, der Jugend zum Vorbild, den Gleichaltrigen zur Mahnung. Ich zweifelte, ob diese Haltung tolerabel war.
    Endlich daheim, erzählte ich meiner Frau die ganze Geschichte, die Geschichte von der Bahnfahrt, bei der ich mich, umgangssprachlich ausgedrückt, bei der Jugend eingeschleimt hatte. Sabine sagte: »Meine Herren, hätten wir uns damals gefreut, wenn wir so behandelt worden wären! Mach dir mal keine Sorgen! Du hast einfach einen kleinen Beitrag zur Verständigung der Generationen geleistet.«
    Ich sehe das heute mit ein wenig Abstand auch so. Und ich habe es erzählt, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas zu verschweigen.

Ich Schussel
    Seit zehn Minuten stehe ich in der Küche und überlege, was ich hier wollte. Ich gucke in den Kühlschrank, sehe in die Schnapsecke unter der Spüle, blättere die Zeitungen durch. Ich weiß es
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