Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Autoren: Andreas Scheffler
Vom Netzwerk:
noch schlimmer aber, wenn man nicht weiß, was die Beleidigungsvokabel bedeuten soll. Wurst. Ich war also in Simones Augen eine Wurst. Aber was für eine? Eine Mettwurst, eine Blutwurst oder gar ein Deutschländer-Würstchen? Vielleicht meinte sie »kleines Würstchen«, hatte sich dann aber nicht getraut, das Diminutiv anzuwenden. Es war unklar. Und schließlich hatte sie überhaupt keinen Grund, mich zu beleidigen. Wir hatten ein vollkommen belangloses Gespräch geführt. – »Hanswurst«, schoss es mir durch den Kopf. Wollte sie andeuten, ich sei ein Hanswurst, also ein Kasper? Das konnte man wiederum als Lob auffassen: der listenreiche und genussfreudige Kasper, der dem Prinzen hilfreich zur Seite steht und die Bösewichter mit seiner Pritsche vermöbelt. Aber warum sagte sie dann »Wurst«? Gut, sie war, wie wir alle, der Gewohnheit verfallen, Wörter abzukürzen. Wer sagt heute noch »Automobil« oder »Lokomotive«? Oder »Hundehaufen«? Auch Simone würde formulieren: »Vor unserer Haustür liegt wieder ein riesiger Haufen.« Wurst – ist das nicht auch die kindliche Bezeichnung für ein festes Ausscheidungsprodukt? Hatte Simone mich quasi einen »Scheißhaufen« genannt? Das wäre allerdings die Höhe. Trotzdem unmöglich. Für so eine Assoziationsleistung besaß Simone eindeutig nicht das intellektuelle Unterfutter. Sie war ein schlichtes und absolut stocksolides Wesen, das Germanistik und Romanistik studierte. Unter vollem körperlichen Einsatz hatte sie sich an unsere literarisch ambitionierte, wenn auch erfolglose Gruppe herangetastet, auf dass ein wenig Glanz auch auf sie herabfalle. Sie selbst aber war nicht dazu in der Lage, auch nur einen fantasiebewegten Satz zu formulieren. Dennoch war sie bemüht, irgendetwas im Bereich des Künstlerischen zu unternehmen. Wenn ihnen jegliches Talent abgeht und nichts anderes einfällt, neigen solche Menschen dazu zu fotografieren. Simone kaufte sich vom Ertrag eines vierwöchigen Ferienjobs eine Spiegelreflexkamera der Marke Canon. Nun macht sie Fotos und erklärt diese zu Kunst. Hauptsächlich fotografiert sie Hausfassaden, alte Hausfassaden. Die Kunst besteht darin, aus einem bestimmten Winkel heraus auf den Auslöser zu drücken. Und wenn die Kontaktabzüge kommen, ist die Aufregung groß. Ich persönlich bin mit meiner Automatik für siebenunddreißig fünfzig aus der Metro auch sehr zufrieden.
    Simone fotografierte also und nannte mich »Wurst«. Außerdem hing sie dem Vegetariertum an, und zwar konsequent. Wenn wir unsere Kammscheiben und sie ihre Tofus grillten, benutzte sie zum Wenden unterschiedliche Zangen. Das Vegetariertum war ein weiterer Ansatz: »Du frisst so viel Aas, dass du schon selbst eine Wurst bist.« Hatte sie das gemeint? War da plötzlich ein Anflug von Fantasie in ihr aufgekeimt, der immerhin dafür gesorgt hatte, dass ich schon seit Stunden über Wurst nachdachte; der vermutlich dafür sorgen würde, dass ich jedes Mal, wenn ich zum Kühlschrank ging, an Simone würde denken müssen?
    Wir hatten telefoniert, um uns auf einen Kinobesuch zu verständigen, ich hatte irgendwann gefragt: »Und – hast du heute schon ein Foto gemacht?«, dann hatte sie »Wurst« gesagt und den Hörer eingehängt. Ich wählte Simones Nummer. »Simone«, fragte ich, »was hast du heute Vormittag mit Wurst gemeint?« – »Keine Ahnung. Was ist denn nun mit Kino?« – »Kohlrabi«, sagte ich und legte auf.

Mordlust
    Was sind das eigentlich für Menschen, die am Kontoauszugsdrucker stehen, gerade ihre Kontoumsätze ausgedruckt bekommen haben und sich nun, ohne beiseitezutreten, das Ganze erst mal in aller Seelenruhe durchlesen, während hinter ihnen eine Schlange steht und wartet und wächst? – Es sind katastrophale Figuren im mitmenschlichen Zusammenleben! Es sind Menschen, die an sozialen Brennpunkten die Lunte fürs Pulverfass geben. Es sind die Gleichen, die zur Rushhour bei Kaisers an der Kasse, während ihre Ware schon eingescannt wird, plötzlich rufen: »Moment, ich hab noch was vergessen!«, um dann für wenigstens fünf Minuten in der Weite des Verbrauchermarktes zu verschwinden. Die gefühlte Zeit ist länger. Einige weichen auf andere Kassen aus, die meisten verharren in aus verkrampfter Not gespielter Gelassenheit. Nach einer Ewigkeit kommt die Kundin mit einem Joghurt zurück. Die Wartenden unterdrücken mühsam ihre Aggressionen und werden schließlich vor eine übermenschliche Aufgabe gestellt, als die Käuferin nach Bekanntwerden der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher