Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Scheffler
Vom Netzwerk:
Rechnungssumme bemerkt, dass sie nicht genügend Geld dabeihat. Sie kichert dabei. Der Mann, der hinter ihr steht, presst einen Hilfshinweis heraus: »Haben Sie denn keine EC-Karte?« Die Knöchel seiner Finger, die den Einkaufswagengriff umschließen, stehen weiß hervor. Die Kundin schüttelt den Kopf, als habe man ihr Schreckliches angetragen.
    Nun muss die Frau mit dem Stornoschlüssel gerufen werden. Diese kommt nach einer sehr langen Weile. Die Kassiererin starrt unterdessen routiniert ins Leere, in der Warteschlange scharrt man mit den Füßen. Einige haben nervöse Zuckungen im Gesicht. Jetzt wird zäh, begleitet von langen Überlegungen, auf welche Ware man denn verzichten könne, subtrahiert, bis das Geld ausreicht. »Vielleicht die Konfitüre oder doch die Spaghetti, ach, ich weiß nicht, ja, die Steaks brauche ich heute eigentlich doch nicht, oder, hm … Teebeutel habe ich, glaube ich, wohl noch zu Hause, und der Joghurt ist an sich auch nicht nötig.«
    Als die Kundin nach dem scheinbaren Ende der Transaktion – den Wartenden steht der Schweiß der Selbstbeherrschung auf der Stirn – mit einem Mal ruft: »Halt, den Joghurt könnte ich doch noch nehmen. Ich bringe Ihnen dann die Wagenmünze dafür«, steht unverhohlene Mordlust in den Gesichtern der Umstehenden. Aber man bleibt stumm. Man würgt sie nicht. Man tritt ihr noch nicht mal in den Hintern. Stattdessen beherrscht man sich. Und davon wird man krank.

Entzug
    Seit sechs Stunden auf Entzug. Es ist nicht so, dass ich zittrige Finger hätte oder Schweißausbrüche. Aber ich bin etwas nervös. Man könnte auch sagen, fahrig. Die innere Unruhe wächst. Ich würde jetzt gern etwas kaputt machen. Man könnte auch sagen, zerstören. Kurz und klein schlagen. Ich nehme einen Bleistift, betrachte ihn und breche ihn in der Mitte durch. Die zwei Hälften auch noch mal zu teilen gelingt zunächst nicht. Dann lege ich sie auf die Kante des Schreibtischs und schlage kräftig mit der Handinnenfläche drauf. Scheiße, tut das weh! Aber jetzt hab ich vier Viertel. Ha! Ich fühle mich besser; irgendwie erleichtert. Auf der Tastatur meines Computers entdecke ich einen feuchten, roten Fleck. Meine rechte Hand blutet. Die Nervosität steigert sich wieder. Kaputt machen! Zerstören! Morden! Ich betrete den Wohnungsflur und suche nach Sabine. Sie liegt im Wohnzimmer auf dem Sofa und streichelt die Katze. Ein idyllisches Bild. Jetzt fangen meine Hände an zu zittern. Auf meiner Oberlippe bilden sich Schweißtropfen. Langsam gehe ich auf sie zu und sage: »Kann ich eins von den Sofakissen haben?« – »Klar«, sagt Sabine, »aber was willste denn damit?« – »Ich will eins von deinen blöden, beschissenen Ikea-Sofakissen«, sage ich betont ruhig, »und dann gehe ich in die Küche, nehme mir ein Messer und schlitze es auf, dass der Schaumstoff nur so herausquillt.« Die Katze flüchtet unter die Couch. Sabine sammelt hektisch alle sieben Kissen ein und legt sich drauf. »Nur über meine Leiche«, sagt sie. Ich überlege kurz, hole mir dann aus der Küche ein Bratenmesser, gehe in mein Arbeitszimmer und falle über die physiotherapeutische Unterlage auf meinem Schreibtischstuhl her. Ein wenig Erleichterung stellt sich ein, und ich trinke ein Glas Rotwein. Aber etwas fehlt. Nach links ein Blick aus dem Fenster auf den Hof mit den Mülltonnen: Ein anonymer Nachbar wirft eine Plastiktüte voller Flaschen ins Altpapier. Ich reiße das Fenster auf und schreie: »Sie Pfeife haben gleich doppelt gegen das Gebot der Mülltrennung verstoßen!« Er zeigt mir einen Vogel und geht.
    Seit sieben Stunden auf Entzug. Resigniert lasse ich mich in meinen Fernsehsessel sinken und schalte die Kiste ein. Richter Alexander Hold verurteilt gerade jemanden zu vier Jahren und sechs Monaten. Wofür, habe ich nicht mitbekommen. Ich hoffe, es ist wegen unkorrekter Mülltrennung, glaube aber nicht so richtig daran.
    Zur Vorgeschichte: Nach langjähriger Zahnarztabstinenz, hervorgerufen durch eine massive Zahnarztphobie, habe ich mich dazu durchringen lassen, aus ästhetischen Gründen nun doch eine Dentistin aufzusuchen und eine Totalsanierung vornehmen zu lassen. Nun trage ich schon seit einiger Zeit fünf provisorische Kronen aus einem plastikähnlichem Material. Die Behandlungskosten nach Implantation der richtigen Kronen würden sich auf 2185 Euro und 4 Cent belaufen. Der Festzuschuss der Krankenkasse liegt bei 785,60 Euro. Bevor aber dieser Zuschuss gewährt wird, musste ich zur Begutachtung,

Weitere Kostenlose Bücher