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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Autoren: José Carreras
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zurechtgekommen.«

    »Woran glauben Sie?«

    »An den menschlichen Geist. Ich bin überzeugt, dass der Mensch fähig ist, unsere Gesellschaft, die gegenwärtig nicht ihre beste Zeit durchlebt, voranzubringen. Ich glaube an etwas, das über dem Menschen steht. Ich weiß nicht, ob ich es hinbekomme, das richtig auszudrücken: Ich kann mich erinnern, dass ein Religionsbuch der Oberstufe den Begriff Gewissen ganz einfach erklärt hat: ›Das Gewissen ist etwas in dir, das dich lobt, wenn du das Richtige tust, und dich tadelt, wenn du das Falsche tust.‹ Sagen wir es so: Ich glaube
an die Fähigkeit des Menschen, seine Fehler zu korrigieren, sowie an ein höheres Wesen – von dem ich nicht recht weiß, wie ich es nennen soll –, das uns fortwährend beurteilt. Jemand, der uns (um die Ausdrucksweise des Religionsbuches zu verwenden) lobt, wenn wir uns richtig verhalten, und uns tadelt, wenn wir uns falsch verhalten. «

    »Manche nennen dieses Wesen Gott.«

    »Wahrscheinlich, ja. Ich möchte auf keinen Fall aufhören, an die Existenz von etwas zu glauben, das über uns ist. Dagegen sträube ich mich mit meinem ganzen Wesen. Ganz und gar ungläubig zu sein ist zu beängstigend.«

    »Ist Gott notwendig, oder gesteht der Mensch damit seine eigene Machtlosigkeit ein?«

    »Ich glaube eher, dass er notwendig ist, um unserem Dasein einen Sinn zu geben.«

    »Und was ist mit der Politik? Ist sie womöglich ein notwendiges Übel?«

    »Jeder weiß, dass es ohne Politik nicht geht. Ich teile nicht die Ansicht, der zufolge jedes Land die Politiker hat, die es verdient. Meiner festen Überzeugung nach haben 99 Prozent all jener, die in die Politik gehen, zumindest am Anfang den Wunsch, dem Ganzen zu dienen, und sind von ihren Idealen überzeugt. Doch im Laufe der Zeit ernüchtert sie das politische Geschehen. Viele von ihnen bleiben ihren Grundsätzen treu und lassen sich nicht korrumpieren, doch einige wenige – eben die Fälle, die wir kennen – erliegen der Eitelkeit, den Verlockungen der Macht und der Korruption. Doch ich möchte glauben, dass Politiker grundsätzlich redliche und anständige Menschen sind, auch wenn sich der eine oder andere von diesem Weg der Redlichkeit und des Anstandes entfernt.«

    »Glauben Sie, dass Sie ein besserer Mensch geworden sind, nachdem Sie eine so schwere Krankheit wie die Leukämie durchgemacht haben?«

    »Nicht besser. Ich denke, dass ich nachdenklicher geworden bin, nachgiebiger und gesprächsbereiter als davor. Ich glaube, dass das jedem so geht, der eine so schwere Prüfung durchmachen muss. Außerdem bin ich wohl solidarischer geworden. Konkret gesagt haben mir andere ein so hohes Maß an Zuneigung und Großzügigkeit bewiesen, dass ich jetzt der Gesellschaft, aber auch der Medizin und der Wissenschaft etwas schuldig bin. Meine Stiftung ins Leben zu rufen war eine Möglichkeit, diese Schuld abzutragen. «

    »Hatten Sie irgendwann das Gefühl, dem Tod ins Auge zu sehen?«

    »Wenn das heißen soll, ob ich irgendwann angenommen habe, die Krankheit nicht zu überleben, muss ich zugeben, dass ich ernsthafte Zweifel an meiner Genesung hatte. Aber dem Tod habe ich nicht ins Auge gesehen. Letzten Endes habe ich trotz aller schwierigen Augenblicke, die ich durchgemacht habe, die Hoffnung nie ganz aufgegeben.«

    »Eine Eigenschaft, die man der Liste Ihrer Vorzüge hinzufügen muss, ist, dass Sie eine ausgesprochen positive Lebenseinstellung haben.«

    »Ja, das stimmt. Ich kann allem, was ich erlebe, etwas Gutes abgewinnen, auch schmerzlichen Erfahrungen.«

    »Hat Ihnen irgendjemand in Ihrem Leben als Vorbild gedient?«

    »Als ich jung war, meine Mutter. In den letzten zwanzig Jahren hat ein anderer diese Rolle ausgefüllt: Professor Rozman. Seinem Vorbild habe ich nachzueifern versucht.«

    »Ist die Fähigkeit, sich Schwierigkeiten zu stellen, eine Frage der Herangehensweise? «

    »Das ist ausgesprochen wichtig, aber auch der Charakter, die Persönlichkeit und die Denkweise spielen dabei eine Rolle.«

    »Ist Rozman ein methodischer Mensch?«

    »Unbedingt. Er hat das methodische Vorgehen geradezu erfunden. «

    »Welchen Beruf hätten Sie gern ausgeübt, wenn Sie nicht Sänger geworden wären?«

    »Am liebsten einen, der mit Kunst zu tun hat, mit Intuition und Instinkt. Ich bin nicht … wie soll ich sagen … besonders ausdauernd. Ich habe eine gewisse Hartnäckigkeit an den Tag gelegt, wenn es darum ging, in zwei Tagen eine Opernpartie zu lernen. Aber wenn ich überlege, welches
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