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Aus der Hölle zurück

Aus der Hölle zurück

Titel: Aus der Hölle zurück
Autoren: Tadeusz Sobolewicz
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sollte. Das klang völlig unglaublich. Meine Mutter war entsetzt. Wozu waren wir vom einen Ende des Landes zum anderen geflüchtet, wenn wir jetzt den Bolschewisten begegnen sollten?
    Die Ereignisse entwickelten sich jedoch schneller als unsere Gedanken. In den Vormittagsstunden des 17 . September rückten Panzer und Schützenpanzerwagen mit roten Sternen in Tarnopol ein. Auf den Straßen tauchten Soldaten in grauen Uniformen und seltsamen Spitzmützen mit fünfzackigen Sternen auf. An den Kreuzungen standen russische Militärstreifen. Von verschiedenen Seiten heranziehende Soldaten zersprengter polnischer Einheiten ergaben sich und stellten ihre Waffen zu Pyramiden auf. Dann wurden sie in unbekannter Richtung abgeführt, sicherlich zu irgendwelchen Sammelpunkten oder in Kriegsgefangenenlager.
    Die Truppen der Roten Armee hatten nicht nur Tarnopol, sondern alle östlichen Wojewodschaften des polnischen Staates einschließlich Wilna und Lwow besetzt. Wir erfuhren, daß es sich dabei um eine schon früher geplante, zwischen Hitler und Stalin vereinbarte Operation handelte.
    Meine Mutter war völlig niedergeschlagen. Sie beschloß, um jeden Preis nach Westen zurückzukehren. Wenn Polen schon seine Unabhängigkeit verloren hatte und okkupiert war, dann sollten wir uns in der deutschen und nicht in der russischen Besatzungszone befinden, möglichst weit weg von den östlichen Besatzern. Dafür hatte sie ihre Gründe. Nach der Mobilmachung hatte sie mit dem Vater vereinbart, daß wir im Falle einer Trennung versuchen würden, nach Tarnów, in die Geburtsstadt meiner Eltern, zu gelangen.
    Ende September gelang es meiner Mutter, ein Fuhrwerk zu mieten. Züge verkehrten noch nicht. Nachdem wir das Notwendigste gepackt hatten, begaben wir uns auf den Rückzug. Unterwegs boten verlassene und zerstörte Autowracks, Geschütze, Panzer und militärische Ausrüstungsgegenstände einen traurigen Anblick. Grabhügel mit hölzernen Kreuzen kennzeichneten die letzte Ruhestätte der Gefallenen. Wir kamen nur langsam voran. Fuhrwerke wie unseres waren oft zu sehen. Auf einem solchen begegneten wir Bekannten aus der Posener Evakuierungskolonne. Weil es uns sicherer erschien, setzten wir den Weg gemeinsam fort. Von Tarnopol nach Lwow waren es etwa 120  Kilometer. Patrouillen der Roten Armee kontrollierten unsere Papiere, ließen uns aber weiterfahren.
    Nach zwei Tagen und einer Nacht auf einem Bauernhof erreichten wir Lwow und fanden unsere Verwandten, die uns aufnahmen. Das Leben bei ihnen glich einem Dahinvegetieren. Aber da es keinen anderen Ausweg gab, mußten wir uns mit dem begnügen, was uns der Tag brachte. Da keine Passierscheine ausgestellt wurden, war uns der Weg nach Tarnów versperrt. Die Verhandlungen zwischen Deutschen und Russen waren noch im Gange. Man mußte eben warten.
    Nicht nur wir befanden uns in dieser Zwangslage. Sehr viele Flüchtlinge, Evakuierte und ehemalige Armeeangehörige unterstanden plötzlich der Verwaltung eines anderen Staates. Lange Tage vergingen, bevor wir erfuhren, daß die russischen Kommissare in Absprache mit den deutschen Behörden all jenen die Rückkehr erlaubten, die nachweisen konnten, daß sie ihren ständigen Wohnsitz in Gebieten hatten, die dem Deutschen Reich eingegliedert waren oder sich im sogenannten Generalgouvernement befanden. Auf polnischem Boden regierten sowohl im Osten wie auch im Westen ausländische Behörden. Um einen Passierschein für den Grenzübertritt zu bekommen, mußte man bis nach Przemyśl fahren. Dort hob sich nach drei Tagen und drei Nächten endlich der Schlagbaum, und Mitte Oktober ließen uns die Deutschen in das von ihnen besetzte Gebiet.
    In Tarnów, dem Ziel unserer Reise, erwartete uns ein herzliches Wiedersehen mit dem Vater. Es war ihm gelungen, der Gefangenschaft zu entgehen. Obwohl unsere Irrfahrt als Evakuierte zu Ende war, flossen bei der freudigen Begrüßung Tränen. »Wir haben kein Polen, aber wir müssen es zurückerlangen«, sagte mein Vater damals zur Mutter.
    Schnell kam ich dahinter, daß mein Vater eine geheime Organisation gegen die Besatzer aufbaute. Er war ständig außer Haus und führte Gespräche mit vielen Leuten. Da er über gewisse Mittel verfügte, richtete er das Handels- und Kommissionsbüro »Okazja« (Gelegenheit) ein. Damit konnte nach außen erklärt werden, weshalb einige Personen, vorwiegend Mitglieder der Organisation, bei uns zu Hause verkehrten. Auch ich bekam die ersten Aufträge. Ich sollte die neueste Ausgabe des
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