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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal
Autoren: Max Frisch
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sein.
     
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41 18.2.
     
    Besichtigung des Märkischen Viertels: ungefähr die Neue Stadt, die unsere Broschüre damals, 1955 , für die Schweiz vorgeschlagen hat.
     
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    Neulich am Breslauer Platz knallt es auf dem Boden, ein Brocken von einem alten Gesimse ist heruntergefallen; drei Meter neben mir. Ein Unfall, ohne Beschädigung andrer, ein natürlicher und nicht herausgeforderter Unfall wäre das beste.
     
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    42 Leute, in deren Gegenwart einem doch etwas einfällt, zumindest die Lust kommt, Sätze zu bilden, Sätze, die nicht vorrätig sind, die einen selber noch überraschen – und die andern Leute, in deren Gegenwart ich mir selber nicht zuhöre, vielleicht umso mehr rede, weil ich mich langweile: ich mich selbst. Die einen und die andern sind weder die Gescheiteren noch die Dümmeren, es hat auch wenig mit dem Grad ihrer Freundlichkeit zu tun. Womit also? Dann wieder sitze ich wie ein Sack voll Zement. Es liegt nicht am Thema oder kaum (welcher Lektor jetzt zu welchem Verlag wechselt, das ödet mich allerdings an) und überhaupt nicht daran, ob ich Mittelpunkt bin oder nicht. Das Vergnügen, einen Satz oder mehrere Sätze mündlich zu entfalten, auszupacken als Überraschung für mich selbst; nachher bin ich den andern dankbar dafür. Meistens sind es Leute, die man nicht allzu oft trifft. Frage des Kredits. Beobachtung an Paaren: wenn der eine Partner in Gesellschaft den andern hört und sichtlich irritiert ist, dass dem Partner mehr einfällt (nicht nur stofflich, sondern sprachlich) als zuhause. Alkohol hilft nur in der allerersten Phase. Wieweit kann man, wenn man sich selber nicht zuhört, weil man nur Vorrätiges redet, den andern zuhören? Und wenn dann alle nur noch Vorrätiges reden (was brillant sein mag, aber nicht aus dem Augenblick entsteht) –
     
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43 20.2.
     
    Erledigungen, Erledigungen als kurzfristige Erledigung der Wozu-Frage. Und Brieftag; wenn ich die akute Verzweiflung nur so weit überspiele, dass sie gerade noch erkennbar sein mag, so empfinde ich es immer als eine Auszeichnung des Adressaten, aber die andern Briefe, Marke Strammer Max, befreien mich mehr.
     
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    »Ich will gar nichts mehr, ich will anfangen zu spielen.« Günter Eich am 16.12.1972 auf dem Sterbebett .

44 21.2.
     
    Diskussion im DDR-Fernsehen über die wissenschaftliche Gültigkeit des Kommunistischen Manifestes; nur ist es keine Diskussion, nicht einmal eine manipulierte, sondern ein gelassenes Wetteifern im Einverständnis, ein Musterschüler-Treffen. Jeder spricht aus, was der andere auch ausgesprochen hätte, eingespurt durch Scheinfragen; Wiederholung der Doktrin mit verteilten Rollen bei totaler Abwesenheit jedes produktiven Zweifels. Und was sie unter Kritik verstehen: Kritik am Gegner, Kritik am Gegner, Kritik am Gegner, und selbst wenn man mit dieser Kritik einverstanden ist aus Erfahrung, wird es schauerlich, Litanei, Litanei der verbalen Selbstbestätigung, ein Denken, das sich nur die Fragen aussucht, die ihre vorgefasste Antwort zulassen, und Fakten gibt es nur, soweit sie die Richtigkeit des Dogmas belegen, nein, man muss überhaupt nichts lernen. Dafür besteht hier auch nicht die Versuchung, Politik als intellektuelles Entertainment zu betreiben.
     
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47 3.3.
     
    Es geht uns gut miteinander. M. findet: besser als je zuvor. Solche Euphorien sind möglich.
     
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    Ungefähr seit einem Monat hier, bisher kein privater Brief aus der Schweiz, ausgenommen ein Brief von Federspiel , der wegen des geliehenen Morris etwas wissen will, ich habe auch noch niemand geschrieben, vermisse nichts, ausgenommen bestimmte Bücher, die aber mit dem Ort, Berzona oder Küsnacht, nichts zu tun haben. Die Heimat beschäftigt mich nicht, weder als Objekt der Kritik noch als Objekt privater Erinnerung. Auch erfährt man hier überhaupt nichts.
     
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    Manuskript REGEN nicht wiederzulesen .
     
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    Nachbarliches Verhältnis noch ohne Bräuche. Es ergibt sich. Wir sind noch ohne Telefon, man besucht einander von Haus zu Haus. Die Zuwandrer haben eine gewisse Funktion, solange sie die Fronten (ich kenne sie wohl) hin und her überschreiten, dabei keinen Klatsch ansetzen lassen. Nun bin ich ja auch der Älteste überall.
     
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48 5.3.
     
    Seit der Lektüre des ARBEITSJOURNALS von Brecht (in vielen Punkten sehr dubios) sind wieder die Massstäbe da, ebenso erhellend wie lähmend, Massstäbe für eine
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