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Auge des Mondes

Titel: Auge des Mondes
Autoren: Brigitte Riebe
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eingebildet, die so gar nicht hätten geschehen können. Sie stand beherzt auf und schaute nur ganz kurz auf die Hand, damit die nächtlichen Gedanken sich nicht wieder einnisteten. Die Kratzer waren tief, aber bereits verkrustet; keinerlei Anzeichen einer Entzündung, zum Glück, um die sie sich hätte sorgen müssen.
    Sie wusch sich, nahm ein frisches Kleid aus dem Korb und begann sich zu kämmen. Der polierte Bronzespiegel zeigte ihr ein müdes Gesicht mit geschwollenen Augen. Sie legte ihn schnell wieder zur Seite. Sie war keine alte Frau, und es kam noch immer vor, dass ihr Männerblicke folgten, doch seit sie allein war, gab es ihr nichts mehr, sich zu schminken und zu schmücken. Außerdem kamen die Leute schließlich auf den Markt, um ihre Geschichten zu hören, und nicht, um sich an ihrer Schönheit zu laben.
    Sie wollte gerade nach draußen gehen, als sie Isets zittrigen Schrei hörte und schnell zu ihr lief.
    »Da!« Mit ausgestrecktem Arm deutete die Alte auf den Schlangenkadaver. »Jemand hat sie brutal erschlagen, die Große Göttin verschone uns vor ihrem gerechten Zorn!«
    Im hellen Morgenlicht sah die Speikobra nicht mehr ganz so gefährlich aus wie im ungewissen Schein des Mondes, aber es war trotz allem ein ausgewachsenes Tier mit glatten, fast schwarzen Schuppen, an dem sich mittlerweile bereits Vögel und Ameisen ausgiebig gelabt hatten.
    »Das war ich«, sagte Mina. »Mit diesem Ast hier.« Sie trat nach ihm. »Und Bastet hat mir dabei geholfen, stell dir vor!«
    »Bastet? Aber das ist ganz unmöglich! Sie würde doch niemals eines ihrer eigenen Geschöpfe …«
    »Ich hasse diese Tiere mit der gespaltenen Zunge«, sagte Mina heftig. Sollte sie der Alten die Hand mit den Kratzern zeigen? Dazu war später noch immer Zeit genug. »Und ich kann nicht leiden, wie sie sich lautlos anschleichen. Außerdem tötet ihr Gift oder macht blind - und genau das hat dieses Exemplar gestern bei mir versucht.«
    »Schlangen sind der Göttin heilig«, murmelte Iset. »Das sollte gerade eine wie du wissen, die ständig in den alten Geschichten kramt. Du hast sie erschlagen, weil sie dich attackieren wollte - das könnte eines Tages vor der Maat vielleicht gerade noch als Notwehr durchgehen, wenn du Glück hast. Aber dann auch noch frech zu behaupten, dass ausgerechnet Bastet dir dabei …«
    »Schon gut!«, sagte Mina, die sich ärgerte, dass sie ihr kleines Geheimnis ohne Not preisgegeben hatte. »Verscharr sie einfach in irgendeiner Gartenecke! Und den Rest überlass ruhig mir!«
    Sie kaute lustlos auf ein paar getrockneten Feigen herum, nahm einige Löffel Gerstenbrei und spülte alles mit dem klaren Wasser aus ihrer Zisterne hinunter. Noch bevor Iset fertig war, hatte sie das Haus schon verlassen.
    Für den Markt war es entschieden zu früh, aber sie hatte ihre Schritte bereits nach Osten gelenkt, zum neu gebauten Viertel, in dem Ameni mit seinen Eltern seit ein paar Jahren lebte. Hier waren die Straßen breiter und regelmäßiger als in Minas altem Stadtteil; dafür gab es kein Grün, erst recht keine Gärten. Alles wirkte auf sie, als hätte ein übereifriger Architekt auf dem Reißbrett an einem einzigen Morgen das Viertel schlecht und recht zusammengezimmert, bevor ihn dann gegen Mittag endgültig die Lust verließ. Sie ermahnte sich, nicht hochmütig zu sein. Für Rahotep war es ohnehin ein unablässig schmerzender Stachel, dass sein toter Bruder nicht ihm, sondern Mina das stattliche Haus vererbt hatte, das sie nun mit Iset bewohnte, sozusagen mutterseelenallein, wie er bei jeder Gelegenheit zu betonen pflegte.
    Sie war noch nicht ganz vor der Tür angelangt, als durch die morgendlich stille Straße bereits sein zorniges Gebrüll dröhnte: »Die Zunge soll ihm verdorren, diesem elenden Hurensohn! Wenn er glaubt, er kann mich unterkriegen, wird er noch zu lernen haben, mit wem er es zu tun hat!«
    Rahotep öffnete mit hochrotem Kopf, nachdem sie mehrmals geklopft hatte, und ließ sie eintreten.
    »Was willst du denn hier?«, herrschte er sie an. »Und mach es kurz, denn meine Zeit ist äußerst begrenzt!«
    »Weil du dich mal wieder schrecklich aufregen musst? Worüber eigentlich, Schwager?«
    »Was geht dich das an? Lebst wie die Made im Speck und musst unter all den dargebotenen Köstlichkeiten lediglich auswählen. Die Sorgen, die mich niederdrücken, kannst du dir nicht einmal vorstellen!«
    »Ich lebe in Per-Bastet, genau wie du«, sagte Mina. »Und bei meiner täglichen Arbeit auf dem Markt erfahre
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