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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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kopierte. Diese hingebende, aufopfernde Zuneigung Katuschas erfüllte Marie Pawlowna mit tiefer Rührung, und deshalb erwiderte sie Katuschas Liebe.
    Ferner verband diese beiden Frauen die Abneigung, die alle beide der geschlechtlichen Liebe entgegenbrachten. Die eine haßte diese Liebe, weil sie sie von der häßlichsten, empörendsten Seite kennen gelernt, die andere, weil sie sie, ohne daß sie ihr bekannt geworden, als etwas Unfaßbares betrachtete, das ihr gleichsam als eine Widerwärtigkeit und eine Beleidigung der Menschenwürde erschien.
     
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    Katuscha hatte sich Marie Pawlowna ganz und gar zu eigen gegeben, und dieser Einfluß wirkte deshalb so stark, weil Katuscha sie liebte. Einen andern Einfluß übte Simonson auf sie aus, und dieser Einfluß machte sich dadurch geltend, daß Simonson Katuscha liebte.
    Alle Menschen leben und schaffen zum Teil nach ihren eigenen Ideen, zum Teil nach denen der andern. Inwiefern die Menschen nun nach ihren eigenen Ideen und nach denen der andern leben, das ist eben einer der bedeutendsten Unterschiede, der die Menschen von einander trennt. Die einen lassen in den meisten Fällen ihre eigene Vernunft wie ein Rad wirken, von dem man die Treibriemen entfernt hat; in ihren Handlungen jedoch folgen sie fremden Ideen, der Sitte, der Tradition und dem Gesetz. Andere wieder lassen sich hauptsächlich bei allen ihren Handlungen von ihren eigenen Ideen leiten; sie hören stets auf das, was ihre Vernunft ihnen predigt und lassen sich von ihr leiten; nur in seltenen Fällen, und wenn sie sorgsam geprüft und erwogen, befolgen sie das, was andere bestimmt haben.
    Der letzten Kategorie gehörte Simonson an; er überlegte lange und ließ sich nur von der Vernunft bestimmen; hatte er dann aber etwas bestimmt, so that er es auch.
    Da er sich schon auf dem Gymnasium zu der Erkenntnis durchgerungen hatte, sein Vater, ein Verwaltungsbeamter, hätte sein Vermögen nicht in rechtschaffener Weise erworben, so erklärte er demselben, er müsse sein Geld an das Volk wieder abgeben. Als sein Vater aber nichts davon hören wollte und ihn in zornigen Worten anschrie, ging er aus dem Hause, um nicht weiter von dem Gelde seines Vaters zu leben. Da er zu der Ueberzeugung gekommen war, das herrschende Unglück stamme nur von der Unbildung des Volkes, so verkehrte er, nachdem er die Universität verlassen, hauptsächlich mit dem Volke. Er wurde Dorflehrer, erklärte dort seinen Schülern und den Bauern mit keckem Mute alles, was er für richtig erkannt, und leugnete alles, was er als falsch und ungerecht erkannt hatte.
    Man verhaftete ihn und stellte ihn unter Anklage.
    Im Laufe der Gerichtsverhandlung war ihm die Erkenntnis aufgegangen, daß die Gerichte gar nicht das Recht hatten, ihn zu verurteilen, und diesem Gedanken verlieh er auch Ausdruck. Als die Richter seiner Ansicht nicht beitraten und die Verhandlung weiter fortsetzten, faßte er den Entschluß, auf keine Frage mehr Antwort zu geben und von nun an zu schweigen. Daraufhin verurteilte man ihn zur Verschickung in das Gouvernement Archangalsk, wo er sich eine Religionslehre zurechtmachte, nach der er alle seine Handlungen regelte. Diese Religionslehre hatte folgenden Inhalt: alles, was sich auf der Erde befindet, ist lebendig; etwas Totes giebt es nicht; denn alle Gegenstände, die wir für tot und unorganisch ansehen, sind nichts weiter, als einzelne Teile eines unermeßlichen organischen Körpers, den zu erfassen und zu begreifen wir außer stande sind. Deshalb ist dem Menschen auch die Aufgabe gestellt, das Leben dieses organischen Körpers und alle demselben innewohnenden lebendigen Stücke zu erhalten.
    Aus diesem Grunde betrachtete er es auch als ein Verbrechen, etwas Lebendiges zu zerstören. Auch hinsichtlich der Ehe hatte er sich seine eigene Theorie zurechtgelegt, und diese Theorie lehrte, die allerniedrigste Thätigkeit des Menschen sei die Fortpflanzung des Menschengeschlechts; die höchste Thätigkeit aber sei es, sich dem, was bereits lebt, dienstbar zu erweisen. Er fand diese seine Lehre in dem Vorhandensein der Blutgefäße bekräftigt. Ebensolche Blutgefäße bildeten seiner Ansicht nach die unverheirateten Menschen, denn ihnen war die Aufgabe gestellt, den schwachen, kränklichen Teilen des Organismus hilfreich zur Seite zu stehen, und als solche Blutkörperchen betrachtete er sich und Marie Pawlowna.
    Seine Theorie wurde auch durch seine Liebe zu Katuscha nicht beeinträchtigt, denn diese liebte er nur platonisch, und
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