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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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zwanzig bis dreißig Werst zurücklegte – zwischen je zwei Wandertagen wurde ein Ruhetag eingeschoben – hatten sie körperlich gestärkt, und der Verkehr mit den neuen Leidensgefährten hatte ihr ganz neue Interessen geschaffen, die ihr bis dahin unbekannt geblieben waren.
    Hocherfreut war sie über alle ihre neuen Gefährten, ganz besonders aber über Marie Pawlowna, der sie mit ehrfurchtsvoller und herzlicher Liebe zugethan war. Sie beobachtete mit der größten Verwunderung, wie dieses schöne Mädchen, das dem reichen Hause eines Generals entstammte und drei Sprachen vollendet beherrschte, sich wie die gewöhnlichste Arbeiterin benahm, wie sie alles, was ihr reicher Bruder ihr schickte, an die andern verschenkte, nicht nur einfache, sondern sogar ärmliche Kleidungsstücke trug und auf ihr äußeres Wesen nicht das geringste gab. Gerade diese Anspruchslosigkeit, der auch nicht der kleinste Schimmer von Koketterie innewohnte, erregte bei Katuscha die meiste Bewunderung. Sie beobachtete, daß Katuscha ganz genau wußte, daß sie schön war, und daß sie auch gern daran dachte; doch der Eindruck, den sie auf die Männer hervorbrachte, erfüllte sie nicht mit Freude, sondern mit Furcht, und sie hegte stets Abscheu und Angst vor etwaigen Zudringlichkeiten. Ihre Gefährten, die diese Gefühle bei ihr genau kannten, empfanden wohl Zuneigung zu ihr, wagten jedoch nicht, sie ihr zu zeigen, und verhielten sich ihr gegenüber genau so, wie gegen andere männliche Leidensgefährten. Nur Leute, die sie nicht kannten, wurden oft zudringlich gegen sie, und wie sie selbst sagte, hatte sie nur ihre große Körperkraft gerettet, auf die sie sich ganz besonders stolz zeigte.
    »Einmal,« so erzählte sie unter lautem Lachen, »trat auf der Straße ein fremder Herr auf mich zu und wollte mich nicht in Frieden lassen; da habe ich ihn aber gepackt und geschüttelt, daß er Angst bekam und sich schleunigst aus dem Staube machte.«
    »Das vornehme Leben,« so erklärte sie oft, »wäre ihr von frühester Jugend an widerwärtig erschienen, dagegen habe sie sich für das Leben des gewöhnlichen Volkes interessiert, und man habe sie oft ausgescholten, weil sie sich in der Gesindestube, in der Küche und im Stall aufgehalten habe, aber nicht in den Salon kommen wollte.«
    »Mit unsern Köchinnen, Mägden und Kutschern konnte ich mich sehr gut verständigen, aber bei unsern vornehmen Herren und Damen war es mir zu langweilig,« meinte sie. »Später, als ich dann mehr zur Vernunft kam, erkannte ich, daß wir ein recht schlechtes Leben führten. Eine Mutter besaß ich nicht, und meinen Vater konnte ich nicht lieben. Im Alter von neunzehn Jahren ging ich mit einer Freundin aus dem Hause und trat als Arbeiterin in eine Fabrik.«
    Sie hatte sich dann auf dem Lande aufgehalten und war darauf wieder in die Stadt gekommen, wo man sie verhaftet und zur Zwangsarbeit verurteilt hatte. Marie Pawlowna sprach niemals darüber, doch die andern teilten es Katuscha mit, daß man sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatte, weil sie sich aus freien Stücken zur Schuld eines andern bekannt.
    Es fiel Katuscha auch auf, daß sie, seit sie mit ihr bekannt geworden war, nie für sich etwas erbat, sondern stets und ständig nur bemüht war, andern dienlich zu sein und sie in großen wie in kleinen Dingen zu unterstützen. Einer ihrer augenblicklichen Gefährten, ein gewisser Nowodworoff, sagte oft von ihr im Scherz, sie betreibe das Wohlthun wie einen wahren Sport. Und dem war auch wirklich so. Wie ein Jäger darauf erpicht ist, das Wild aufzupürschen, so richteten sich ihre gesamten Lebensinteressen darauf, sich andern nützlich zu erweisen. Diese Art Sport wurde bei ihr zur Gewohnheit und bildete sich zu ihrem einzigen Lebenszweck aus. Doch was sie that, that sie in so einfacher, natürlicher Manier, daß jeder, der sie kannte, ihre Hilfeleistung als etwas ganz Selbstredendes betrachtete.
    Zuerst hatte Marie Pawlowna, als sie Katuscha kennen gelernt, einen Widerwillen gegen sie empfunden, und Katuscha war das nicht unbekannt geblieben. Später aber machte sie die Entdeckung, daß Marie Pawlowna lebhaft bemüht war, sich ihr gegenüber ganz besonders herzlich und gütig zu zeigen, und die herzbezwingende Liebenswürdigkeit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes machte einen so tiefen Eindruck der Rührung auf Katuscha, daß sie sich ihr mit Herz und Seele weihte, sich unwillkürlich alle ihre Lebensanschauungen zu eigen machte, und sie instinktiv in allen Dingen
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