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Auferstehung 2. Band (German Edition)

Auferstehung 2. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 2. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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darin bestand, die Teppiche und Kleidungsstücke auszubreiten, trocknen zu lassen und wieder fortzuschließen.
    Nechludoffs Schlafzimmer war verhältnismäßig nicht allzusehr in Unordnung; doch man hatte verabsäumt, es für die Nacht in Stand zu setzen, und so standen Koffer, die den Durchgang hinderten, vor der Thür. Offenbar hatte Nechludoff durch seine Rückkehr das große Unternehmen der Reinigung gestört, die schon seit Wochen mit außergewöhnlicher Langsamkeit im Hofe vorgenommen wurde. Das alles erschien Nechludoff, im Vergleich zu dem Elend, das er eben bei den Bauern gesehen, so blöd und lächerlich, daß er das Haus schon am nächsten Morgen zu verlassen beschloß, um sich im Hotel niederzulassen, wobei er Agrippina Petrowna ihre Bestimmungen nach ihrem eigenen Gutdünken treffen ließ. Thatsächlich ging er am nächsten Morgen frühzeitig aus, wählte zwei kleine möblierte Stuben von bescheidenstem Aussehen in dem ersten Wirtshause, das er auf dem Wege zum Gefängnis traf, ließ seinen Koffer, den er schon am vorigen Abend gepackt, hierherbringen und machte sich zu dem Advokaten auf den Weg.
    Der Morgen war kalt. Auf die Stürme und Regengüsse war Frost gefolgt, wie er gewöhnlich zu Beginn des Frühlings eintritt. Die Temperatur war so frisch und der Wind so scharf, daß Nechludoff in seinem zu leichten Ueberzieher fröstelte und schneller ging, um sich zu erwärmen.
    Seine Erinnerung wurde von dem, was er auf dem Dorfe gesehen, heimgesucht; er sah wieder diese Weiber, Kinder und Greise, dieses Elend und diese Abspannung, die er zum erstenmale entdeckt; er sah ganz besonders das arme, elende Kind, das ihm auf den Armen seiner Mutter so kläglich zugelächelt und unaufhörlich seine fleischlosen Beine bewegte; und unwillkürlich verglich er diese Erinnerungen mit dem, was er rings umher sah. Als er an den Läden der Gewürzkrämer, der Schlächter, der Fischhändler und der Konfektionsgeschäfte vorüberkam, fiel ihm das wohlgenährte Aussehen dieser Kleinbürger und der Unterschied dieses Aussehens mit dem der Bauern auf. Ebenso wohlgenährt erschienen ihm die Kutscher der herrschaftlichen Wagen mit ihren ungeheuren Schenkeln, auf denen sich riesige Goldknöpfe breit machten, die Portiers in galonnierter Livree, die Kammerzofen in weißen Schürzen mit den gebrannten Haaren, ja, sogar die Fiakerkutscher erster Klasse, die auf den Kissen ihrer Wagen lagen und zerstreut die Vorübergehenden anstarrten. Doch unter dieser wohlgenährten Miene erkannte Nechludoff jetzt in ihnen dieselbe Sorte Menschen, die er auf dem Lande gesehen. Durch den Mangel an Erde aus ihrem Dorfe verjagt, hatten sie es verstanden, sich den Bedingungen des Stadtlebens anzupassen, sie waren Bürger geworden, freuten sich dessen und waren stolz darauf; doch wie viele andere gab es, die der Mangel an Erde ebenfalls aus ihrem Dorfe gejagt, die weniger Glück gehabt, und die sich in viel erbärmlicherer Lage befanden, als wie sie sie bei sich zu Hause nicht zu ertragen vermocht! So z. B. die Schuhmacher, die an den Fenstern eines Kellers auf das Leder schlugen; die mageren und blassen Wäscherinnen mit den wirren Haaren, die an den geöffneten Fenstern, denen ein erstickender Seifengeruch entströmte, Wäsche plätteten; ferner zwei Häuseranstreicher, an denen Nechludoff vorüberkam und die barfüßig und von Kopf bis Fuß mit Farbe bespritzt durch die Straße marschierten. Die Aermel bis über die Ellenbogen aufgekrempt, trugen sie einen großen Eimer voller Farbe und schrieen sich fortwährend Schimpfworte zu. Ihre Gesichter drückten ein Gemisch von Müdigkeit und schlechter Laune aus. Denselben Ausdruck las er auf den Gesichtern der Fiakerkutscher zweiter Klasse, die zitternd vor Kälte auf ihren Böcken saßen; denselben Ausdruck las man ferner auf den Gesichtern der zerlumpten Männer, Weiber und Kinder, die an den Straßenecken um Almosen bettelten. Doch nirgends fand Nechludoff diesen Ausdruck so auffallend, als auf den Gesichtern, die er an den Fenstern der Kneipen bemerkte, an denen er vorüberkam. An schmutzigen Tischen voller Flaschen und Gläser saßen Gruppen von Männern, die mit schweißgebadeten Gesichtern und flammenden Wangen schrieen oder sangen. An einem Fenster sah Nechludoff einen jener Unglücklichen, der mit hochgezogenen Augenbrauen und geöffnetem Munde gerade vor sich hinstarrte, als wenn er sich an etwas erinnern wollte.
     
     
    »Aber warum haben sich denn alle in der Stadt versammelt?« fragte sich
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