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Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Titel: Aufenthalt in einer kleinen Stadt
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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wie mit der Laubsäge gebastelt, aus Stein, aus Beton, eine Renaissancefassade, eine Schule, ein Jugendstilgebäude, die Kantonalbank, ein Warenhaus ›Chez Billeter‹, dann Kinos, drei, vier, sichtbar rechts und links der Straße, ›Capitol‹,
    ›Apollo‹, ›Alhambra‹, ›Metropol‹, mit grellen Inschriften,
    ›Limelight‹, ›Straße von Rio, Neunte Woche‹, ›Heidi‹, ›Die Hafenmarie‹, mit küßenden Riesengesichtern, Riesenbusen, ein Konsum, ein Migrosgeschäft, Affichen von Ärzten, Schneidern, Coiffeurs, Schola Cantorum Konigiensis, Läden aller Art, die Metzgerei Ziel, ein weiteres Jugendstilgebäude, vielleicht ein Theater, Bauernhäuser, dazwischen an den Trottoirs Misthaufen und Milchkessel, dann auch Bars, Cafés 24

    mit großen Wagen davor, Studebaker, Mercedes, Buick, ein Jeep; die Delta-Uhren waren gesucht wie noch nie, warfen Geld ab wie noch nie, da sollte man sich doch beteiligen können, dachte der Bankier. Dazu die Fahnen und Wimpel der morgigen Schlachtfeier, die bernischen Fahnen, die von Konigen, blau mit gelben Querbalken, die roten Schweizerfah-nen mit dem weißen Kreuz, des weiteren Spruchbänder ›Hie Konigen, hie Eidgenossenschaft‹, ›Konigen dankt dem Bunde‹, überall Plakate, die zum Festspiel ›Bollengeist und Bol-lentat‹ einluden.
    Durch diese patriotische Allee hatte der Zerstörer des großen Stöpsels nun zu gehen, wollte er seine Untat melden. Noch zögerte er, begreiflicherweise. Auf dem anderen Trottoir stand der Stadtbaumeister in der Sonne, die mit ihrem Licht nichts vermochte, massig, ein gewalttätiger Bauer, trotz der Kälte mit offenem Mantel und ohne Halstuch, de Schangnau beobach-tend. Der Bankier fror. Zum letzten Mal genoß er die Freiheit, wenn auch gequält, dazu wollte die Costa Penna nicht schmek-ken. Er ließ sie fallen und zertrat sie, wütend über das Geld, das er ausgegeben hatte, und erschrocken über die Sparsam-keit, die ihn da plötzlich anwandelte als unfehlbares Zeichen seiner Pleite.
    »Mann«, sagte eine helle Stimme neben ihm, »Mann, du sollst kommen.«
    De Schangnau wandte sich um. Im offenen Eingang einer Türe stand ein Mädchen, etwa zehnjährig, in einem dünnen, roten Rock und einer schmutzigen, halb zerrissenen Schürze, mit nackten Beinen, gelben Socken, ebenfalls zerrissen, und Sandalen, ein durchfrorenes Wesen, blau vor Kälte. Das kleine Gesicht war mager, die grünen Augen weit aufgerissen.
    »Sollst kommen, Mann«, sagte es wieder.
    Wie es heiße, fragte de Schangnau.
    »Yvette.«
    Zu wem er kommen solle?

    25

    »Zu Papa.«
    Der Bankier starrte das Mädchen an, wie träumend. »Warum denn?« fragte er, sich an sein Mädchen zu Hause erinnernd, das auch Yvette hieß und ein ebenso schmales blondes Ding war, ihm ebenso fremdartig und unbekannt, und zum erstenmal spürte er Sehnsucht nach der Rue Pestalozzi.
    »Wegen dem Turm«, antwortete das Mädchen mit seiner leisen, gläsernen Stimme, und sein Atem trieb in kleinen Wolken vom Gesicht.
    »So komm«, sagte der Bankier, »so komm.«
    Das Kind lief ihm hüpfend voraus, zuerst auf dem Trottoir.
    Sie kamen an einem Bäckerladen vorbei.
    »Kauf mir einen Nußgipfel, Mann«, sagte das Mädchen,
    »Papa sagt, du hast Geld und wirst mir einen Nußgipfel kaufen.«
    Der Bankier gab ihm einen Franken, Kleingeld hatte er nicht, und das Mädchen sprang in den Laden. Durch die Scheibe sah er, wie das rote, schmale Geschöpf mit leuchtenden Augen wählte, dann kam es wieder heraus.
    »Ich habe zwei Nußgipfel gekauft, Mann«, sagte es, in beiden Händen eines der klebrigen Gebäcke und schon essend; daß es noch Geld herausbekommen haben mußte, erwähnte es nicht.
    »Führ mich jetzt zu deinem Vater«, sagte der Bankier.
    Das Mädchen hüpfte in eine Seitengasse und dann in einen Hof zwischen Wohnblöcken. Der Bankier zögerte.
    Der Hof war asphaltiert, die Hinterfronten der Häuser schmutzig, die blaugraue Farbe blätterte ab, Wäsche hing überall vor den Fenstern, Windeln, zum Teil im grellen Licht der Sonne. Verrostete Eisenstangen, Karosserien alter Autos, Kanister, Schubkarren aus Eisen, Geräte aller Art standen herum, Wellblechdächer, unter denen Velos eingestellt waren, gegen hinten zu Holzschuppen und dann eine Fabrik, von den Schuppen halb verdeckt, mit rauchendem Kamin, ein süßlicher 26

    Geruch von Benzin in der Luft.
    Das Kind war mitten im Hof stehengeblieben. »Komm, Mann«, sagte es, »komm.«
    De Schangnau trat ein. Es war hier nicht so kalt wie auf der
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