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Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Titel: Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Autoren: Lydia Benecke
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Menschen, die ihn kennen. Seine Professoren und Kommilitonen an der Universität sind überzeugt, Rodney könne nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Sie glauben, das müsse ein tragischer Irrtum sein. Keiner von ihnen kann sich vorstellen, dass der freundliche, wortgewandte, gebildete junge Mann, den sie kennen, ein grausamer Sexualverbrecher ist.
    Die Polizeibeamten erkennen, dass der flüchtige Täter ein sehr geschickter Schauspieler ist, der problemlos für lange Zeit untertauchen kann. Angesichts der vielen Fotos in seiner Wohnung und der unglaublich brutalen Tat sind sie sicher: Er wird es wieder tun. Deshalb wenden sie sich an das FBI. 1969 setzt das FBI Rodney auf die Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher der USA. Zwei Jahre lang gibt es jedoch nicht den geringsten brauchbaren Hinweis.
    Rodney hat sich währenddessen eine neue Identität aufgebaut. Viereinhalbtausend Kilometer von Los Angeles entfernt lebt er als »John Berger« in New York. Er zieht ins East Village, ein alternatives Künstlerviertel, und lebt von Aushilfsjobs und als bezahlter Fotograf. Kaum einen Monat nach seiner Flucht beginnt er ein Kunststudium an der New Yorker Universität. Dort besucht er auch einen Filmkurs, den der bekannte Regisseur Roman Polanski leitet. Kurz darauf, in den Semesterferien, wird Rodney Betreuer und Lehrer in einem »Kunst- und Schauspiel-Sommerlager« für Mädchen in New Hampshire. So vergehen drei Jahre, in denen er seiner ganz persönlichen Liebe für Kunst auf verschiedenste Weise nachgeht.
    Außerhalb seines Studiums und seiner Nebenjobs verbringt er viel Zeit damit, mit seiner professionellen Kamera durch New Yorks Straßen zu flanieren. Er spricht Hunderte junger Frauen und Mädchen an, stellt sich als professioneller Fotograf vor und bittet sie charmant, für ihn Modell zu stehen. Sehr viele der Angesprochenen fühlen sich geschmeichelt und willigen begeistert ein. Einige fotografiert er an den Orten, an denen er ihnen begegnet, andere kommen in seine Wohnung. Dort kann er viele davon überzeugen, sich für ihn auszuziehen und als Akt fotografieren zu lassen. Hat er sie erst so weit, versucht er sie zu verführen. Viele können dem attraktiven, charmanten jungen Künstler nicht widerstehen.
    Die New Yorker Weinkritikerin Alice Feiring erinnert sich über vierzig Jahre später an ihre Begegnung mit Rodney. Er spricht die damals 13-Jährige in einer Buchhandlung am St. Marks Place an, mitten im Künstlerviertel East Village. Sie hat ein Buch des französischen Philosophen Albert Camus in der Hand. Rodney verwickelt Alice in ein Gespräch über philosophische Theorien und bringt sie dazu, mit ihm durch das Viertel zu spazieren. Während des Gesprächs sammelt er unauffällig Informationen über sie, mit denen es ihm immer besser gelingt, sie zu beeinflussen. Das Mädchen ist nervös, weil der gutaussehende, gebildete Fotograf so viel älter ist als sie selbst. Doch er lässt ihr keine Zeit, zu erfassen, wie merkwürdig die Situation ist. Als sie an einem jüdischen Restaurant vorbeikommen, erwähnt er wie zufällig, dass er auch Jude sei, ebenso wie sie. Dies ist einer von vielen Tricks, die er anwendet, um ihr Vertrauen zu gewinnen.
    Plötzlich bleibt er vor einem Haus stehen und sagt: »Hier wohne ich.« Dann fügt er ganz selbstverständlich hinzu: »Ich würde dich unglaublich gerne fotografieren.« Alice wird misstrauisch, denn sie hält sich nicht für eine besondere Schönheit. Rodney bemerkt dies sofort und hat gleich eine schlüssige Erklärung für seinen Wunsch. Er sagt, dass er das farbliche Zusammenspiel ihrer roten Haare mit den leuchtend roten Knöpfen ihres schwarzen Regenmantels vor dem momentan herrschenden Nebel für ein sehr gutes Fotomotiv hält. Inzwischen weiß er, dass Alice selbst begeistert malt und dieses Argument ihr aus künstlerischer Sicht vollkommen schlüssig erscheint. Dennoch bleibt Alice unsicher, sodass er ihr vorschlägt, sie müsse ihn ja nicht in seine Wohnung begleiten. Ein solches Bild ließe sich sehr gut auf dem Dach seines Hauses machen. Das scheint ihr eine gute Lösung zu sein, denn dort fühlt sie sich sicher. Einer der Hausbewohner wird sicher hören, sollte sie um Hilfe rufen, also schätzt sie die Gefahr nicht allzu groß ein.
    Während Rodney die Fotos mit ihr auf dem Dach macht, verwickelt er sie immer weiter in freundliche, interessante Gespräche. Als alles vorbei ist, empfindet Alice ihn als vollkommen harmlosen, sympathischen jungen
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