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Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Titel: Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Autoren: Lydia Benecke
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Postamt der Kleinstadt George Mills. Um sich die Zeit zu vertreiben, schauen sie sich das FBI-Plakat mit den zehn meistgesuchten Verbrechern der USA an. Was sie sehen, verschlägt ihnen den Atem: Ihr Kunst- und Schauspiellehrer John Berger sieht genauso aus wie der flüchtige Sexualstraftäter Rodney Alcala. Sie berichten davon dem Leiter des Sommerlagers. Dieser hat nach einem Blick auf das Foto keinen Zweifel daran, dass sein Mitarbeiter John Berger der flüchtige Sexualstraftäter ist, und informiert sofort das FBI.
    Rodney wird von FBI-Agenten noch im Sommerlager festgenommen. Seine Fingerabdrücke beweisen, dass es sich um keinen Irrtum handelt. Er wird nach Los Angeles gebracht und wegen des Verbrechens an Tali Shapiro angeklagt. Polizeikommissar Steve Hodel hat in Los Angeles drei Jahre auf diesen Tag gewartet. Er war es, der das FBI um Hilfe in dem Fall gebeten hatte. Hodel spricht mit Rodney, als dieser in Untersuchungshaft sitzt. »Erzählen Sie mir von dem Vorfall mit Tali Shapiro«, fordert er Rodney auf. Dessen Antwort erstaunt den erfahrenen Polizeibeamten: »Oh, ich will alles, was damit zu tun hat, vergessen. Ich will nicht über Dinge sprechen, die Rod Alcala getan hat.« Der Polizeibeamte begreift nicht, wie dieser Mann über sich selbst sprechen kann, als sei er eine andere Person.
    Doch in Rodneys Kopf ist dies kein Widerspruch. Was er gerade tut, hat er schon sein ganzes Leben lang getan: verschiedene Figuren darstellen, indem er sich unterschiedliche Masken aufsetzt. Es ist kein Zufall, dass er sich für Schauspiel interessiert und darin sogar Kurse gibt. Die verschiedenen Rollen, die er im Laufe seines Lebens entwickelt, nutzt er, um nicht aufzufallen oder um andere für sich zu gewinnen. Sein ganzes Leben wird eine Aneinanderreihung dieser Rollen, die er bis zur Perfektion einstudiert hat. Er kann sie schneller wechseln als andere Menschen ihre Kleidung. All diese Rollen verbergen sein tiefstes Inneres – es würde jeden normalen Menschen zu Tode erschrecken.
    Normale Erwachsene haben ganz selbstverständlich eine konkrete Vorstellung davon, wer sie sind, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Sie wissen, welche Eigenschaften sie haben, welche Werte sie vor sich selbst vertreten, welche Menschen ihnen etwas bedeuten, was sie in ihrer Vergangenheit geprägt hat und welchen Weg sie in Zukunft gehen wollen. Psychopathen ändern ihre Meinungen und die Wertvorstellungen, die sie nach außen vertreten, sie tauschen die Menschen aus, die in ihrem Leben vorkommen, ihre Zukunftspläne, oft auch die Geschichten über ihre Vergangenheit – und das immer wieder. Deshalb benutzen viele von ihnen im Laufe ihres Lebens auch unterschiedliche Namen. Je nach dem, was ihnen in einer bestimmten Situation oder Lebensphase nützt, stellen sie eine komplette Figur dar. Diese muss mit der Figur, die sie zwei Stunden später an einem anderen Ort spielen, nicht das Geringste zu tun haben.
    Sie haben allerdings keine »gespaltene Persönlichkeit«, bei der die Betroffenen Erinnerungslücken haben und selbst nicht wissen, woher ihre unterschiedlichen »Persönlichkeiten« kommen. Psychopathen erinnern sich an alles, wenn sie es wollen, und erfinden die Figuren, die sie spielen, ganz bewusst. Es ist ähnlich wie bei Menschen, die in ihrer Freizeit an Live-Rollenspielen teilnehmen: Sie ziehen sich ein Kostüm an, geben sich einen anderen Namen, erfinden, was für eine Figur – oft auch ein Phantasiewesen – sie sind und welche Lebensgeschichte, Eigenschaften und Fähigkeiten diese Figur hat. Dann spielen sie diese Rolle einige Tage lang innerhalb einer Gruppe von Mitspielern. Während dieser Zeit denken, sprechen und verhalten sie sich als die Figur, die sie darstellen. Ist das Rollenspiel vorbei, sind sie wieder sie selbst.
    Für Psychopathen ist das ganze Leben ein solches Spiel. Sie haben verschiedene »Spielcharaktere«, die je nach Situation und Lebenslage, mal für länger, mal nur kurz die Handlung übernehmen. Das erklärt auch, warum »Wahrheit« für einen Psychopathen etwas völlig anderes ist als für alle anderen Menschen. Wahr ist für den Psychopathen das, was er in diesem Augenblick – je nach Rolle und Situation – als wahr empfindet. Um es mit einem »normalen« Live-Rollenspieler zu vergleichen: Würde man diesen beispielsweise mitten im Spiel fragen, ob er tatsächlich der Magier Nemo aus dem Land Nusquam ist, der andere mit Flüchen belegen kann, so würde er dies bejahen. In dieser Situation spielt
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