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Auf dem spanischen Jakobsweg

Auf dem spanischen Jakobsweg

Titel: Auf dem spanischen Jakobsweg
Autoren: Wolfgang Dannhäuser
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wandern. Das hegt wohl insbesondere daran,
dass jeder seinen eigenen Laufrhythmus hat, und es Kraft kostet, sich einer
anderen Gangart anzupassen. Auch hat man auf diesem Pilgerweg schon nach kurzer
Zeit das Bedürfnis, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Gleichzeitig
schwindet das Verlangen, viel zu reden. Auf den Weg muss man sich, auf die
Landschaft will man sich konzentrieren. Hier in Navarra auf die grünen,
bewaldeten Berge und auf die vielen wilden Blumen, die auch jetzt, im August,
hier noch immer blühen. Später, in der Meseta, werden wohl nur noch ein paar
Disteln am Wegesrand stehen. Dann werden wir im Spanien unserer Vorstellungen
angekommen sein. Aber das ist noch weit, sehr weit für einen Fußgänger. Und
Santiago de Compostela? Das ist noch viel weiter, fast unvorstellbar weit, kein
Ziel mehr, mit dem man sich gedanklich beschäftigt, nur eine ferne Illusion,
ein verschwommenes, verklärtes Bild.
    Welchen
Gedanken hingen wohl die Pilger des Mittelalters nach, wenn sie auf dem Pfad
gingen, auf dem ich gerade wandere? Hatten sie einen Blick für die grünen Berge
links und rechts von ihnen oder für das weiter entfernt schon hinter ihnen
liegende blaue Gebirge? Wahrscheinlich haben sie dieses mehr als Bedrohung denn
als Bereicherung empfunden, die Größe und Schönheit der Natur wurde ja erst
sehr viel später, in der Romantik, wiederentdeckt. Dachten sie an zu Hause, an
ihr stilles Tal in der Eifel oder in Burgund, an das Treiben auf ihrem
Marktplatz in Amsterdam, in Stockholm oder in Warschau? Dachten sie nur an
Compostela und das heilige Grab, das ihnen Vergebung ihrer Sünden bringen
sollte? Oder gingen durch ihren Kopf die Räuber, die überall lauerten oder
Krankheiten oder umherstreifende Mauren, Dinge, die alles zunichte machen
konnten, bevor die Sünden am Grab des Apostels vergeben waren? Vielleicht
dachten manche auch nur an das tägliche Brot. Und an den Wein, den es
hoffentlich in der nächsten Pilgerherberge geben würde. An Brot und Wein
dachten sicher viele, vielleicht alle, sonst wäre dies in den alten Berichten
über Pilgerfahrten nicht so ausgiebig beschrieben worden. Aber welche Ideen,
welche Wünsche beherrschten ihre Gedanken? Wir wissen es nicht, die Menschen
des Mittelalters waren anders als wir. Sie waren in ihren Lebensäußerungen
weniger kopfgesteuert, sie lebten unbewusster und unkritischer, aber damit auch
elementarer und aufregender. Sie waren große und begabte Kinder, mit
ungebrochener Phantasie, aber auch mit Sinn für Schönheit und Maß, mit
Verständnis für Symbole und Gebärden. Feinsinnigkeit, Milde und auf Felsen
gebaute Hoffnung konnten abrupt in bebenden Zorn und abgrundtiefe Verzweiflung Um schlagen.
Weil für diese Menschen die Ideen die Wirklichkeit waren, konnten sie an alles
glauben, an geflügelte Engel und bocksbeinige Teufel, an Visionen,
Erscheinungen und Wunder, an Märchen, Legenden und Mysterien, an Heilige und
Hexen, an Himmel, Fegefeuer und Hölle, an Zwerge, Feen und Nymphen. Vor allem
aber glaubten sie bedingungslos an Gott. Er stand unangefochten über allem. Auf
ihn war trotz ihrer Erdverbundenheit alles ausgerichtet. Auf ihn war Verlass.
Aber wie konnte man ihm gerecht werden? Diese Frage hing wie ein Schwert über
ihrer mittelalterlichen Seele.
    Selbstverständlich
glaubten sie auch daran, dass Jakobus der Altere nach Jesu Himmelfahrt
predigend und missionierend durch Spanien gezogen war, bevor er dann wieder
nach Jerusalem zurückgekehrt und dort unter Herodes Agrippa den Märtyrertod
gestorben war. Aber auch daran zweifelten sie nicht, dass man seinen Leichnam
mit einem Schiff nach Nordwestspanien zurückgebracht und dort beigesetzt hatte.
Und dass dann, um das Jahr 813, der Einsiedler Pelagius und sein Bischof
Theodomir nach einer übernatürlichen Lichterscheinung ein Marmorgrab gefunden
hatten, welches nur das Grab des Heiligen sein konnte. Da wäre die Vermutung —
einer sehr viel späteren Zeit — an ihnen abgeprallt, dass es sich bei diesem
Fund in einem antiken römischen Gräberfeld vielleicht doch nur um das
Marmorgrab eines römischen Edelmannes gehandelt haben mochte. Denn war nicht
Jakobus sogar Karl dem Großen im Traum erschienen und hatte ihn aufgefordert,
das Grab des Apostels zu suchen und aus Iberien, dem heutigen Spanien, die
Mauren, die Muslime also, wieder zu vertreiben?
    Die Mauren
aus Spanien vertreiben? Ohne Zweifel ist dies das entscheidende Schlüsselwort
für das Verständnis des Geschehens um den
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