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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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apfelsiniger Duft. Um sie sehen zu können, musste ich zu ihr hochschielen.
    »Willst du hier nur so rumliegen?«, fragte sie.
    »Was sollte ich denn sonst tun? Irgendwelche Vorschläge?« Nachdem ich sie eine Weile mit verdrehten Augen angeblickt hatte, bekam ich Kopfschmerzen. Ich brachte meine Augen in ihre natürliche Position zurück. Der Wasserfall donnerte auf die Felsen vor uns, dass Schaum aufspritzte.
    »Ich würde dich gern was fragen«, sagte sie.
    Sofort fiel mir die Situation an der Bar ein, wo sie mich so fest angesehen und von meinem Krankenhausaufenthalt gesprochen hatte. Offenbar wollte sie jetzt die bewusste Frage stellen. »Schieß los.«
    »Warum kommst du hierher?«
    »Zum Wasserfall?« Okay, das war nicht die Frage, die ich erwartet hatte.
    »Hast du schon mal von diesem Ort … geträumt? Hattest du je das Gefühl, dass du hier sein musst? Oder ist dir hier mal was Merkwürdiges passiert?«
    Ich setzte mich auf. »Wovon redest du eigentlich?«
    Sie seufzte; zumindest nahm ich das an. Da das Wasser so laut toste, ließ sich das nicht genau feststellen. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und kratzte mich am Kopf. Dabei fiel mir ein Blatt aus den Haaren.
    »Einmal hat mich der Wasserfall umgerissen und nach unten gedrückt«, sagte sie. »Da kam es mir einen Moment so vor, als würde ich über meinem Körper schweben und sehen, wie ich unten im Wasser lag. Und gleich darauf stand ich auf, schnappte nach Luft und war wieder in meinem Körper, verstehst du?«
    »Wahrscheinlich bist du kurz ohnmächtig geworden.«
    »Ist dir so was auch schon mal passiert?«
    »Nein, aber …« Ich erzählte ihr von dem Buch, das ich gerade las. Das mit dem Floß und der Pazifiküberquerung hatte ich inzwischen durch. In dem neuen Buch ging es um einen Typ, der auf einen der höchsten Berge der Welt geklettert und dabei in ein Unwetter geraten war. Vor lauter Erschöpfung war er so verwirrt, dass er, obwohl er allein war, den Eindruck hatte, es sei jemand bei ihm, jemand, der ihn den Berg hinuntergeleitete. Er unterhielt sich sogar mit dieser Person – oder was immer es war. Von solchen Fällen hatte ich schon früher gelesen, von Menschen, die in lebensgefährlichen Situationen das Gefühl hatten, es sei jemand bei ihnen.
    »Genau das meine ich!«, sagte Nicki. »Was, glaubst du, hat der Typ gesehen?«
    »Ich glaube, er hatte Halluzinationen. Er war dehydriert und wahrscheinlich auch unterkühlt.«
    »Und du denkst, ich hatte auch Halluzinationen?«
    »Na ja, jedenfalls hört sich’s so an, als wärst du mit dem Kopf aufgeschlagen.«
    »Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du daran zweifelst …« Sie verstummte abrupt.
    Ausgerechnet du . Mir wurde eiskalt. Ich erstarrte.
    »Was meinst du damit?«, fragte ich, sobald ich wieder sprechen konnte. Im gleichen Moment sagte sie: »Ich wollte dich nicht …« Dann hielten wir beide den Mund.
    Ich beobachtete, wie Nicki auf das Wasser starrte und verlegen über den Saum ihrer Shorts strich.
    »Ausgerechnet ich? Was soll das heißen?« Was immer sie von mir wollte – sie sollte es endlich ausspucken. Ich hatte es satt, über jedes Wort, das sie von sich gab, nachzudenken, hatte es satt, herumzurätseln, warum sie mich überhaupt angesprochen hatte.
    »Hast du wirklich versucht, dich umzubringen?«, fragte sie, ohne mich anzusehen.
    Ja, das war die bewusste Frage. Gestern wollte ich, dass sie sie stellte, doch inzwischen hatte ich es mir anders überlegt. Da war etwas an ihr, dem ich nicht traute, etwas Zwanghaftes in ihrer Stimme und ihrem Blick. »Warum willst du das wissen?«
    »Ich … Dafür gibt es einen Grund. Ich bin nicht nur neugierig.« Sie wandte den Blick vom Wasser ab und sah mich an. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen, was ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Ihre Lippen waren feucht, als hätte sie gerade mit der Zunge darübergeleckt.
    »Was für einen Grund?«
    »Das ist … kompliziert.«
    Eigentlich hatte man es den Leuten damals ziemlich leicht gemacht, sich die Wahrheit zusammenzureimen. Kurz nach meinem Verschwinden waren alle Schüler zusammengerufen worden, damit sie sich einen Vortrag über vorbeugende Maßnahmen bei Selbstmordgefährdung anhörten. Und meine Mutter war aus unerfindlichen Gründen mitten am Tag – statt nach Unterrichtsschluss – in der Schule aufgekreuzt, um meine Sachen aus dem Spind zu holen. Es wussten also alle Bescheid, obwohl ich nie etwas darüber gesagt hatte, und niemand hatte sich getraut,
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