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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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richtete den Blick wieder auf mich. Ich wusste, welche Frage sie auf der Zunge hatte. Wenn ich ihr auf den Rücken geklopft hätte, hätte sie sie wahrscheinlich ausgespuckt. Ich fuhr mit den Fingern über die glatte Platte des Tresens und starrte sie herausfordernd an. Ich war gespannt, wie weit sie gehen würde, nachdem sie sich so in unser Haus eingeschlichen hatte. Wenn ich sie richtig einschätzte, hatte sie durchaus den Mumm, mir die bewusste Frage zu stellen.
    Sie sah mich fest an und zog die Augenbrauen hoch, als hoffe sie, dass ich antworten würde, ohne dass sie die Frage auszusprechen brauchte. Doch dann machte sie einen Rückzieher und senkte den Blick.
    »Komm«, sagte ich. »Lass uns wieder nach oben gehen.«
    Wir standen vor der Glaswand des Wohnzimmers. Ihr Atem schlug sich auf der Scheibe nieder. »Ihr habt ein tolles Haus.«
    »Du hättest es mal sehen sollen, als wir eingezogen sind. Meine Eltern haben den Bauunternehmer sofort verklagt.«
    »Wieso das?«
    »Schon nach ein paar Wochen wurden die Fenster undicht. Und das Dach auch.« Dass meine Mutter den Bau ständig überwacht hatte, war eben doch keine Garantie für ein perfektes Haus gewesen. »Wir mussten für einige Wochen ausziehen, damit alles repariert werden konnte.« Ich verstummte, weil ich über das, was in dieser Zeit passiert war, nicht sprechen wollte.
    Kents Schwester fuhr mit dem Fingernagel über die Fensterscheibe. »Gehst du oft zum Wasserfall?«, fragte sie.
    »Jeden Tag.«
    »Da ist mal ein Junge ums Leben gekommen, weißt du.«
    »Man sollte nicht alles glauben, was die Leute so reden.«
    »Aber das ist nicht nur ein Gerücht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nämlich dabei. Der Junge hieß Bruce Macauley. Er war ungefähr acht. Ich war damals sechs.«
    »Du warst dabei?«
    »Ja. Ich und mein Bruder. Er ist ausgerutscht. Bruce, meine ich. Auf den glitschigen Steinen.«
    »Oh.« Ich hatte mir schon oft vorgestellt, auf diesen Steinen auszurutschen und von der Wucht des Wasserfalls nach unten gedrückt zu werden, doch jetzt wurde mir klar, dass ich all die Gerüchte nie ganz geglaubt hatte.
    Sie drehte sich zum Fenster zurück und strich mit den Fingerspitzen über die Scheibe. Wenn meine Mutter, die jeden Fingerabdruck sofort mit Glasreiniger entfernte, das gesehen hätte, wäre sie explodiert.
    »Trotzdem gehe ich immer noch gern zum Wasserfall«, sagte Kents Schwester.
    Sie gab mir die Handtücher zurück – die Handtücher, die mit ihrer Haut in Berührung gekommen waren. Mir fiel ein, dass ich sie ihr schon vorher hätte abnehmen sollen, damit sie sie nicht durch das ganze Haus zu tragen brauchte. »Tschüs, Ryan«, sagte sie an der Tür, und ich fragte mich, warum sie meinen Namen kannte, wenn ich mich an ihren nicht erinnern konnte. Ich knüllte die Handtücher zusammen und wollte noch etwas sagen, doch da war sie bereits verschwunden.

2
    Ich ging nach oben, um auf meinem Handy und meinem Computer zu checken, ob ich Nachrichten von Jake und Val bekommen hatte. Die beiden waren die Einzigen, die mir je eine Mail oder eine SMS schickten. Wir waren zusammen im Patterson Hospital gewesen, inzwischen aber alle wieder draußen. Und obwohl wir weit voneinander entfernt lebten, waren wir das ganze Jahr über in Verbindung geblieben.
    Von Val war nichts da. Ich schrieb ihr eine Mail, die ich aber wieder löschte, ohne sie abzuschicken. Dann starrte ich auf das Bild an der Wand, als könnte ich auf diese Weise Kontakt mit ihr aufnehmen, doch die Gedanken, die ich aussandte, hatten weder einen Effekt auf das Bild noch auf meinen Posteingang. Anschließend machte ich mich daran, den üblichen Spam auszusortieren.
    Jake hatte mir den Link für einen Videoclip geschickt, in dem ein Strauß Fußball spielte. Solchen Quatsch schickten wir uns ständig zu. Ich revanchierte mich mit einem Cartoonclip mit tanzenden Walrossen.
    »Bist du da?«, schrieb er. »Wo warst du den ganzen Tag?«
    »Draußen. Dann war dieses Mädchen hier.«
    »Was für ein Mädchen? Seit wann hast du eine Freundin?«
    »Hab ich nicht. Sie wohnt einfach nur in unserer Gegend.«
    »Und was hast du mit ihr angestellt?«
    »Ha. Gar nichts.«
    »Komm schon, lass mal ein paar pikante Details hören. Kannst sie ja erfinden.«
    Ich wechselte das Thema. »Was hast du den ganzen Tag gemacht?«
    »Was ich immer mache. Games gespielt, bis ich Krämpfe in den Händen bekommen hab. Meine Mom liegt mir ständig in den Ohren, dass ich mal rausgehen soll, aber wozu? Wenn
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