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Atlantis

Titel: Atlantis
Autoren: Stephen King
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Broad Street hinüber. Es wurde jetzt dunkel; für Bobby war der schönste Teil des Abends gekommen. Die vorbeifahrenden Autos hatten das Standlicht eingeschaltet, und irgendwo auf der Asher Avenue rief Mrs. Sigsby ihre Zwillinge
zum Abendessen herein. Zu dieser Tageszeit - und am frühen Morgen, wenn er im Badezimmer stand und in die Kloschüssel pinkelte, während der Sonnenschein durch das kleine Fenster in seine halb offenen Augen fiel - kam Bobby sich wie ein Traum im Kopf von jemand anders vor.
    »Wo haben Sie gelebt, bevor Sie hierhergekommen sind, Mr. … Ted?«
    »An einem weniger schönen Ort«, sagte er. »Einem weitaus weniger schönen. Wie lange wohnst du schon hier, Bobby?«
    »So lange ich zurückdenken kann. Seit mein Dad gestorben ist. Da war ich drei.«
    »Und du kennst alle hier in der Straße? Oder zumindest in diesem Block?«
    »So ziemlich, ja.«
    »Dann würdest du Fremdlinge erkennen. Gäste. Die Gesichter von Unbekannten.«
    Bobby lächelte und nickte. »Mhm, ich glaub schon.«
    Er wartete darauf, wohin das als Nächstes führen würde - es war interessant -, aber anscheinend war’s das gewesen. Ted stand langsam und vorsichtig auf. Bobby konnte kleine Knöchelchen in seinem Rücken knirschen hören, als er die Hände ins Kreuz legte, das Gesicht verzog und sich reckte.
    »Komm«, sagte er. »Es wird kühl. Ich gehe mit dir rein. Dein Schlüssel oder meiner?«
    Bobby lächelte. »Sie sollten lieber Ihren eigenen einweihen, finden Sie nicht?«
    Ted - es fiel Bobby immer leichter, ihn innerlich Ted zu nennen - holte einen Schlüsselring aus der Tasche. Es waren nur zwei Schlüssel dran: der für die Haustür und der zu seinem
Zimmer. Beide waren neu und glänzten in der Farbe von Katzengold. Bobbys eigene zwei Schlüssel waren zerkratzt und stumpf. Er fragte sich erneut, wie alt Ted sein mochte. Mindestens sechzig. Ein sechzigjähriger Mann mit nur zwei Schlüsseln in der Tasche. Das war merkwürdig.
    Ted öffnete die Haustür und ging dann in die große, dunkle Eingangshalle mit dem Schirmständer und dem alten Gemälde hinein, auf dem Lewis und Clark ihren Blick über den amerikanischen Westen schweifen ließen. Bobby ging zur Wohnungstür der Garfields hinüber, Ted zur Treppe. Dort blieb er einen Moment stehen, die Hand am Geländer. »Die Geschichte von Simak ist großartig«, sagte er. »Der Stil weniger. Nicht schlecht, das will ich damit nicht sagen, aber glaub mir, es gibt Besseres.«
    Bobby wartete.
    »Es gibt auch hervorragend geschriebene Bücher, die keine sehr guten Geschichten erzählen. Manche Bücher solltest du wegen der Geschichte lesen, Bobby. Sei nicht wie die Büchersnobs, die das nie tun. Andere solltest du wegen der Worte lesen - der Sprache. Sei keiner von denjenigen, die immer nur auf Nummer sicher gehen wollen und das nie tun. Aber wenn du ein Buch findest, das sowohl eine gute Geschichte als auch gute Worte zu bieten hat, dann solltest du es wie einen Schatz betrachten.«
    »Gibt es viele davon, was meinen Sie?«, fragte Bobby.
    »Mehr, als die Büchersnobs und die Auf-Nummer-sicher-Geher glauben. Viel mehr. Vielleicht gebe ich dir eins. Ein verspätetes Geburtstagsgeschenk.«
    »Das brauchen Sie nicht.«
    »Nein, aber vielleicht tu ich’s trotzdem. Ich wünsch dir noch einen schönen Geburtstag.«

    »Danke. Er war schon toll.« Dann betrat Bobby die Wohnung, machte sich den Eintopf warm (und dachte daran, das Gas abzudrehen, nachdem dieser zu blubbern begonnen hatte, und den Topf hinterher in der Spüle einzuweichen), aß ganz allein zu Abend und las Ring um die Sonne , wobei ihm der laufende Fernseher Gesellschaft leistete. Er hörte kaum zu, als Chet Huntley und David Brinkley die Abendnachrichten herunterrasselten. Ted hatte recht mit dem Buch; es war einsame Spitze. Die Worte fand er ebenfalls in Ordnung, aber vermutlich hatte er da noch nicht viel Erfahrung.
    So eine Geschichte würde ich auch gern schreiben, dachte er, als er das Buch schließlich zuklappte und sich aufs Sofa fläzte, um sich Sugarfoot anzusehen. Ob ich das wohl könnte?
    Vielleicht. Ja, vielleicht. Irgendjemand musste ja schließlich Geschichten schreiben, genauso wie jemand die eingefrorenen Rohrleitungen reparieren oder die ausgebrannten Glühbirnen in den Straßenlaternen am Commonwealth Park auswechseln musste.
    Etwa eine Stunde später, nachdem Bobby Ring um die Sonne wieder zur Hand genommen und darin zu lesen begonnen hatte, kam seine Mutter heim. Ihr Lippenstift war in einem
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