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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5
Autoren: Kristen Simmons
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ich mich so schwer gefühlt. Ich schleppte mich über die lange Gummimatte zu einem freien Platz in der Mitte und brach auf der Bank zusammen. Das Schluchzen der Mädchen um mich herum drang nur vage in mein Bewusstsein. Taubheit kroch über mein Rückgrat, lähmte meine Furcht und meine Sorgen. Ich fühlte nichts mehr.
    Das Mädchen neben mir hatte lange, wellige schwarze Haare und mokkabraune Haut. Sie schaute kurz zu mir herüber, ehe sie fortfuhr, auf ihren Fingernägeln herumzukauen, wütend, nicht furchtsam. Sie hatte die Beine auf Kniehöhe gekreuzt und trug ein enges T-Shirt und eine Pyjamahose.
    »Schuhe vergessen?« Sie zeigte auf meine Füße. Meine Socken waren voller Schlamm und Grasflecken. Mir war das noch gar nicht aufgefallen.
    »Warum haben sie dich geholt?«, fragte sie, ohne den Blick von ihrer Hand zu lösen.
    Ich sagte nichts.
    »Hallo?« , sagte sie. »Ember, nicht wahr? Ich rede mit dir.«
    »Sorry. Woher weißt du …« Ich betrachtete ihr Gesicht und erinnerte mich vage.
    »Ich war letztes Jahr an der Western. Rosa Montoya? Wir hatten zusammen Englisch. Danke, dass du dich an mich erinnerst.«
    »Hatten wir?« Eine Falte bildete sich an meiner Nasenwurzel. Normalerweise konnte ich Gesichter besser zuordnen.
    Sie verdrehte die Augen. »Mach dir keine Gedanken. Ich war nur ein paar Monate dort. Zwischen den Vermittlungen, weißt du?«
    »Vermittlungen?«
    »Gruppenunterkünfte. Pflegeunterbringung, Princesa . Also, warum haben sie dich geholt?« Sie sprach betont langsam. Inzwischen konnte ich sie wieder einordnen. Sie hatte weit hinten im Klassenzimmer gesessen, an ihren Nägeln herumgekaut und gelangweilt ausgesehen, ganz so wie jetzt auch. Sie war mitten im Halbjahr aufgetaucht und noch vor den Abschlussprüfungen wieder gegangen. Wir hatten nie ein Wort miteinander gewechselt.
    Ich fragte mich, ob noch andere Mädchen aus meiner Schule in diesem Bus waren, aber als ich mich umblickte, konnte ich kein vertrautes Gesicht ausmachen.
    »Artikel 5, hat der Soldat gesagt«, antwortete ich.
    »Oh. Man schleift dich in die Reso, weil deine Mom ’ne Dorfmatratze ist.«
    »Eine … was?«
    Weiter hinten wurde das Schluchzen eines Mädchens lauter. Jemand brüllte sie an, sie solle still sein.
    »Dorfmatratze. Eine, über die schon jeder drübergerutscht ist«, erklärte sie sarkastisch. Dann verdrehte sie die Augen. »Ja. Nun guck nicht so unschuldig. Die Soldaten werden ihre Freude dran haben. Pass auf, Princesa , falls es dir hilft, ich wünschte, ich hätte meinen Dad nie kennengelernt. Kannst dich als Glückskind betrachten.«
    Es passte mir nicht, dass sie einfach davon ausging, ich würde meinen Vater nicht kennen. Obwohl sie damit richtiglag. Die meisten Kerle, die sich von der freigeistigen Haltung meiner Mutter angezogen fühlten, verpissten sich genau deswegen auch schnell wieder.
    Die meisten, aber nicht alle. Ihr letzter – und schlimmster – Freund, Roy, hatte sich eingebildet, er könnte sie unter Kontrolle halten, aber dazu war selbst er nicht imstande gewesen.
    Ich war froh, dass Rosa und ich früher in der Schule nichts miteinander zu tun gehabt hatten, und ich wünschte beinahe, es wäre auch jetzt noch so, aber sie schien eine Vorstellung davon zu haben, was mit uns passieren würde.
    Der Bus schlingerte fort von dem Platz vor der Notaufnahme, und als er das tat, war mir, als wollte mich ein physischer Schmerz zerreißen, so als würden meine Glieder in verschiedene Richtungen gezogen. Meine Mutter und ich waren immer zusammen gewesen, hatten alles gemeinsam durchgestanden. Und jetzt hatte ich sie verloren und wusste nicht, was sie sagen oder tun würde, nur um wieder nach Hause zu dürfen.
    Ärger schob sich vor meinen Kummer. Ärger über mich selbst. Ich hatte nicht hart genug gekämpft. Nicht gut genug mitgespielt. Ich hatte sie ziehen lassen.
    Der Bus kroch auf den Highway. Müll stapelte sich vor einer Reihe liegen gebliebener Fahrzeuge auf der Spur für langsame Verkehrsteilnehmer. Ich erkannte die alten Häuser und die bemalten Silos vor der alten Universität von Louisville. Das Rote Kreuz hatte den Campus in ein Notlager für Leute umgewandelt, die im Krieg aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. In einigen der höher gelegenen Schlafsaalfenster konnten wir trotz der späten Stunde noch Kerzenschein sehen.
    »Wo bringen die uns hin?«, fragte ich Rosa.
    »Das verraten sie nicht«, entgegnete sie und lächelte, und ich sah, dass zwischen ihren Vorderzähnen eine
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