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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5
Autoren: Kristen Simmons
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Wachmännern.
    Als wir näher kamen, schauderte ich. Der Soldat hatte irgendwann das Wort Resozialisierung benutzt, aber ich wusste nicht, was das beinhaltete oder wo sich die Einrichtung – falls es überhaupt eine Einrichtung gab – befand. Ich stellte mir eines dieser gewaltigen Übergangspflegeheime vor, die während des Krieges erbaut wurden, oder, noch schlimmer, die staatliche Besserungsanstalt. Aber dort konnten sie mich doch unmöglich hinbringen; ich selbst hatte ja gar nichts angestellt. Geboren zu werden war kein Verbrechen, auch wenn die mich behandelten wie eine Kriminelle.
    Aber was, wenn sie meine Mutter ins Gefängnis warfen?
    Ich dachte an die verschwundenen Kinder aus meiner Schule. Katelyn Meadows und Mary Irgendwas und dieser Neuntklässler, den ich nicht kannte. Man hatte sie wegen Verstößen gegen irgendwelche Artikel vor Gericht gezerrt, wegen harmloser Vergehen wie verpasstem Schulunterricht aufgrund eines nicht gebilligten religiösen Festes. Sie hatten niemanden umgebracht oder so etwas. Und trotzdem war Katelyn nicht zurückgekommen, und Mary und der Junge waren inzwischen seit einer oder zwei Wochen verschwunden.
    Ich versuchte, mich zu erinnern, was Beth über Katelyn gesagt hatte, aber ich zitterte so sehr, mein Gehirn schien regelrecht zu klappern. Ihre Telefonnummer wurde abgemeldet. Sie steht nicht auf der Vermisstentafel. Ihre Familie ist nach dem Prozess weggezogen.
    Weggezogen, dachte ich. Oder man hatte sie alle in einen Bus gesteckt und verschwinden lassen.
    Ich reihte mich hinter einem stämmigen Mädchen mit einem kurzen, blonden Bob ein. Sie weinte so sehr, dass sie kaum noch Luft bekam. Eine andere hatte die Arme um den Bauch geschlungen und wiegte sich auf den Füßen. Sie alle schienen höchstens so alt wie ich zu sein. Ein dunkelhaariges Mädchen konnte nicht älter als zehn Jahre sein.
    Morris lockerte seinen Griff um meinen gequetschten Arm, als wir uns zwei Wachmännern näherten. Einer hatte ein blaues Auge. Der andere ging eine Namensliste auf einem Klemmbrett durch.
    »Ember Miller«, meldete Morris. »Wie viele noch bis zur Abfahrt, Jones?«
    Meine Knie wurden weich. Wieder fragte ich mich, wohin sie uns bringen würden. Sehr weit weg, sonst hätte ich in der Schule oder durch den Klatsch in der Suppenküche davon hören müssen. Mir wurde bewusst, dass niemand außer diesen Soldaten unseren Bestimmungsort kannte. Nicht einmal meine Mutter. Beth würde uns suchen, aber sie riskierte eine Vorladung oder Schlimmeres, wenn sie den Männern von der MM zu viele Fragen stellte.
    Ich hatte das fürchterliche Gefühl, dass ich kurz davor war zu verschwinden. Dass ich die nächste Katelyn Meadows werden würde.
    »Noch drei. Funkmeldung ist gerade reingekommen. Wir dürften in weniger als einer Stunde unterwegs sein«, berichtete der Soldat.
    »Gott sei Dank«, sagte Morris. »Diese kleinen Biester sind bösartig.«
    Der Soldat mit dem blauen Auge grunzte. »Als würde ich das nicht wissen.«
    »Wenn Sie uns eine Geldbuße aufbrummen wollen, dann bezahle ich sie«, platzte ich heraus.
    Tatsächlich hatten wir gar kein Geld. Wir hatten bereits den größten Teil unserer staatlichen Unterstützung für diesen Monat aufgebraucht, aber das mussten die ja nicht wissen. Notfalls konnte ich etwas von unserer Habe verpfänden. Das hatte ich schon früher getan.
    »Wer hat denn was von einer Geldbuße gesagt?«, fragte Morris.
    »Was wollen Sie dann? Ich besorge es. Sagen Sie mir nur, wo meine Mutter ist.«
    »Einen Soldaten zu bestechen stellt einen Verstoß dar«, warnte er mich und feixte dabei, als wäre das alles nur ein Spiel.
    Irgendeine Möglichkeit musste es geben. Ich durfte nicht in diesen Bus steigen.
    Er sah, wie mein Blick an ihm vorbeihuschte, und erkannte meinen Fluchtversuch schon, ehe ich den ersten Schritt getan hatte. Wie der Blitz schloss sich sein derber Griff um meine Taille.
    »Nein!« Ich kämpfte verzweifelt, aber er war so viel stärker und hatte meine Arme fest gegen meinen Körper gepresst. Der Kerl kicherte – ein Laut, der mich mit Schrecken erfüllte – und schob mich gewaltsam und mit der Unterstützung der beiden Soldaten die Stufen hinauf.
    Jetzt ist es so weit, erkannte ich mit morbider Klarheit. Ich werde verschwinden.
    Der Soldat mit dem blauen Auge stieg hinter mir die Stufen hinauf und schlug sich mit seinem Schlagstock auf die Handfläche.
    »Setzen«, befahl er.
    Ich hatte keine andere Wahl, als zu tun, was er sagte.
    Nie zuvor hatte
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