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Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Autoren: Hilal Sezgin
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Ich selbst habe während der Arbeit an diesem Buch einige langgehegte Überzeugungen ablegen müssen und neue dazugewonnen. Insbesondere war ich überrascht zu sehen, dass man oft nur von recht simplen und weithin anerkannten ethischen Grundüberzeugungen auszugehen und ihnen zu folgen braucht, um zu recht weitreichenden Tierrechten zu gelangen. Das ist im Grunde der Hauptertrag dieses Buches, den ich mir zu Beginn der Arbeit so gar nicht vorgestellt hätte. Doch ich hoffe, zeigen zu können, dass diese Schlüsse zumindest plausibel sind.
    Ich glaube, wir sollten es hier mit Mary Midgley halten, die 1983 in ihrem Klassiker
Animals and Why They Matter
(man sieht, dies war noch in den Anfängen der Tierethik – man musste belegen, warum Tiere überhaupt zählen!) schrieb: «Wir wissen, dass eine Moral, die niemals jemanden vor den Kopf stößt, zur bloßen Etikette verkommt. Die Geschichte früherer Reformen, wie der Abschaffung der Sklaverei, beweist das. Gleichzeitig sind Ideale, die niemand in Handlungen überführen kann, zu nichts nutze. Diese Spannung stellt eigentlich eine grundsätzliche Schwierigkeit im Leben dar. (Man könnte es auch anders sehen: Sie ist ein allgemeiner Faktor, der das Leben interessant macht.)»[ 1 ] Ja, eine Moral darf nicht zu anspruchsvoll sein – und gleichzeitig muss sie anspruchsvoll sein! Denn sonst hat sie nichts beizutragen zu diesem schwierigen und interessanten menschlichen Unterfangen, ein friedlicheres Zusammenleben, auch mit Tieren, zu gestalten.

Erstes Kapitel
Was heißt hier Ethik?
Die Empfindungen anderer • Um welche Tierarten geht es? • Der Vorwurf des Anthropomorphismus • Die Asymmetrie des moralischen Universums • Von Rechten und Pflichten • Gleichheit versus Speziesismus • Zusammenfassung
    Manchmal meint man, anderen aufgrund ihrer deutlichen Körperhaltung und Mimik direkt ins Herz blicken zu können; ein solches Erlebnis hatte ich auf einem vegetarischen Straßenfest in Berlin. Eine Tierrechtsgruppe hatte einen Monitor mit einem Video aufgebaut, das die Vorgänge in einem Schlachthof zeigte: Eine Kuh wird herbeigezerrt, bekommt das Bolzenschussgerät an den Kopf gesetzt, und so fort. Ich wandte mich sofort schaudernd ab.
    Wenig später sah ich eine Frau, die etwa zehn Meter vor diesem Bildschirm wie in der Bewegung erstarrt stehengeblieben war. Sie war modisch angezogen, vielleicht Mitte zwanzig, und auch wenn es streng genommen nichts zur Sache tut, fiel sie doch auch deswegen auf, weil sie ausgesprochen schön war, mit einem makellosen mediterranen Teint und langen dunklen Locken. Ihre Augen waren weit geöffnet und auf den Bildschirm gerichtet. Offenbar war sie gerade vom Einkaufen gekommen, hatte zufällig den Alexanderplatz mit den vegetarischen Ständen überquert, den Bildschirm passiert und sich vom Anblick der Schlachtung gefangen nehmen lassen.
    Sie war sichtlich entsetzt, hatte dergleichen möglicherweise noch nie gesehen. Doch am bewegendsten war eigentlich, was sie
nicht
tat: Sie ging nicht weiter. Sie wandte die Augen nicht ab, nicht einmal kurz; sie hielt auch nicht dieHände in einer Mischung aus Erschrecken und Selbstschutz vor den Mund. Sie stand einfach nur da und schaute. Ich glaube, ich habe keinen erwachsenen Menschen je dermaßen ungeschützt und vorbehaltlos schauen sehen. Als das Video nach zwei, drei Minuten zu Ende war, gab sie sich nicht etwa einen Ruck, um das Gesehene abzuschütteln, sondern setzte ihren Weg langsam und sichtlich mitgenommen fort.
    Natürlich weiß ich nicht, was diese Frau genau dachte, und vor allem: wie lange sie es dachte. Ob sie Konsequenzen für ihr Handeln zog, wie schnell sie zu vergessen suchte. Und doch denke ich, dass uns das Erleben dieser Frau, das sich so ungefiltert an ihrem Gesicht ablesen ließ, den Ausgangspunkt von Moral bildhaft vor Augen führt: die Erkenntnis, dass es da einen anderen gibt. Einen Gegenüber, der fühlt, leidet, wünscht – vielleicht verzweifelt –, lebt. Und dass sein Erleben, obwohl weder sein Schmerz noch seine Freude unsere eigenen sind, auch uns etwas angeht und uns nicht gleichgültig sein darf.
    Mehr ist es zunächst nicht, und doch ist eines entscheidend: dass hier Befindlichkeit und Interessen eines anderen Wesens in die eigenen hineingenommen werden. Das, was es will, fühlt und braucht, wandert gleichsam in das ein, was auch ich will, was ich überlege und entscheide. Moral beginnt da, wo ich zulasse, dass die Interessen eines anderen meine Interessen und
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