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Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Autoren: Hilal Sezgin
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Handlungen mitformen; wo ich darüber nachzudenken bereit bin, in welchem Verhältnis seine oder ihre Interessen und meine gewichtet und wie sie miteinander abgestimmt werden sollen.
Die Empfindungen anderer
    Im Folgenden will ich ein wenig detaillierter betrachten, was Ethik motiviert, und Grundbegriffe wie Empfindungsfähigkeit, Anthropomorphismus, Rechte und Pflichten, Speziesismusdiskutieren. Leserinnen und Leser, die primär an konkreten tierethischen Fragen interessiert sind, können gleich zum nächsten Kapitel – über Tierversuche – oder zur Zusammenfassung am Ende dieses Kapitels springen.
    Gegenüber den anderen sei eingeräumt: Das Beispiel der Frau auf dem vegetarischen Straßenfest zeigt natürlich nur eine Möglichkeit von vielen, wie moralische Prozesse in Gang gesetzt werden können. In diesem speziellen Fall hat vermutlich ein Gefühl, nämlich im buchstäblichen Sinne Mit-Leid, den Ausschlag gegeben. Vermutlich hätte die Frau diese Minuten vorrangig als gefühlsintensive Minuten beschrieben: «Es war schrecklich. Die Kuh tat mir leid.»
    Doch es gibt viele Menschen, deren emotionale Reaktion auf solche Bilder und überhaupt auf Tiere deutlich kühler ausfällt. Dafür lassen sie sich bisweilen rein rational motivieren, ihren Umgang mit Tieren zu überdenken. So kenne ich Leute, die aufgrund einer Internet-Diskussion mit völlig Unbekannten innerhalb kurzer Zeit zu Veganern geworden sind. Sozusagen «rein über den Kopf». Ich war ziemlich überrascht, als mich eine von ihnen, eine Freundin aus Berlin, auf meinem Hof besuchte und sich den Schafen näherte, hinkauerte, sie zu streicheln begann – und mir nachher sagte, dass dies die ersten größeren Tiere seien, die sie je angefasst habe. Sie habe sich eigentlich nie für Tiere interessiert, nicht einmal als Kind. Aber sie hatte sich schon lange gegen Rassismus engagiert, und bei einer Internetdiskussion sei ihr klar geworden, dass unser derzeitiger Umgang mit Tieren ja auch eine Form von Rassismus sei – «Rassismus gegen Tiere», wie sie es ausdrückte. Wenige Wochen nach jener Diskussion hörte sie mit dem Konsum von Fleisch, Milch und Eiern auf. Und erst seitdem sie dadurch mehr über Massentierhaltung und ähnliche Themen liest, interessiert sie sich auch zunehmend für «reale» Tiere.
    Bei ihr hat also kein Gefühl, kein Mitleid, keine Tierliebe, sondern eine rationale Einsicht am Anfang des moralischenUmdenkens gestanden. Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn wir für Menschen in fernen, uns unbekannten Ländern spenden oder unsere Wählerstimme einer Partei geben, deren Politik für uns selbst vielleicht wenig Unterschied machen würde, aber auf mehr Gerechtigkeit für andere hoffen lässt. Man muss nicht jeden mögen und auch nicht mit jedem mitfühlen, für den man sich moralisch oder politisch engagiert.
    So besitzt der Ausgangspunkt der Moral sowohl eine emotionale als auch eine kognitive Komponente. Das exakte Mischungsverhältnis von «Verstand» und «Gefühl» ist dabei nicht wichtig, denn beide führen zu einer zentralen Einsicht sozialer Art: dass andere ähnliche Empfindungen haben wie wir. Auch wenn wir ihre Empfindungen und Gedanken nicht unmittelbar «in uns selbst» spüren, wissen wir: Auch diese anderen sind ein Ich, auch sie sind Subjekte ihres Lebens.[ 1 ] Die anderen sind auch «Jemand», ein Alter Ego, das ich nicht ignorieren darf.[ 2 ]
    Dieser Einsicht folgt ein weiterer, nun tatsächlich eher rationaler Gedanke. Und zwar wissen wir oder verstehen irgendwann, dass es keine absoluten, übergeordneten Gründe gibt, warum «Ich» wichtiger sein sollte als «Du» – denn auch Du bist ein eigenes Ich. Wir können aus uns selbst nicht heraus. Doch wenn es, hypothetisch gesprochen, die Möglichkeit gäbe, einmal aus uns herauszutreten, einmal kurz über allen zu schweben, würden wir sehen: Da gibt es keine unterschiedlichen Wertigkeiten, da ist ein Ich nicht realer, nicht zentraler, nicht ausschlaggebender als das andere. Gewiss steht man sich selbst meist näher; man fühlt selbst, was man fühlt, während man es bei anderen eher «über Bande» nachvollzieht. Aber rational müssen wir doch anerkennen, dass alle Ichs, unser eigenes und die der anderen, gleichrangig sind. Jeder von uns ist der Nabel seines eigenen Universums, das mit etwas Abstand betrachtet eben unser gemeinsames Universum ist.[ 3 ]
    Bisher bin ich recht zwanglos zwischen Beispielen mit Kühen und Menschen hin- und hergewechselt. Denn das, was
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