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Antonias Wille

Antonias Wille

Titel: Antonias Wille
Autoren: Petra Durst-Benning
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würde ich jetzt schon dasitzen und eine Skizze für ein Bild vom ›Kuckucksnest‹ entwerfen. Oder ein Lied komponieren«, sagte Julie, während sie Antonia das Tablett abnahm und die Sachen auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster abstellte. »Aber ich verwalte ja nur die Kreativität anderer!«
    Â»Auf Ihre Art sind Sie doch auch eine Künstlerin«, entgegnete Antonia und ließ sich im Sessel gegenüber nieder. »Wer die Gabe hat, so viele Menschen kreativ arbeiten zu lassen, wie Sie es in Ihrer Kunstschule tun, ist für mich ein wahrer Künstler!«
    Â»Na ja, ich würde sagen, das hat eher etwas mit Organisationstalent zu tun«, wehrte Julie ab. »Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es in früheren Zeiten viele Künstler ins ›Kuckucksnest‹ gezogen hat. Dieses Licht! Und dann die Ruhe …« Wenn sie nur ein bisschen davon mit in die Stadt nehmen könnte!
    Â»Maler, Dichter, sogar Bildhauer sind als Gäste auf den Berg gekommen. Und Schauspieler von allen großen Häusern! Aber vor allem die Maler wurden tatsächlich fast magisch angezogen. Wegen des Lichts, wie Sie richtig erkannt haben.« Antonia lächelte. »So haben sich ja meine Eltern damals auch kennen gelernt. Mein Vater kam als Gast ins Hotel …«
    Julie nippte an ihrem Tee. »Ich dachte, Ihr Vater wäre Uhrmacher gewesen, wie seine Brüder.« Stimmte die ganze Verwandtschaftsgeschichte womöglich gar nicht?
    Â»Nein, er war Schildermaler! Es musste doch schließlich auch jemand die Schilder und Zifferblätter der Uhren bemalen, nicht wahr? Vater hat dafür nicht nur die klassische Apfelrose gewählt, sondern alle möglichen Motive. Einige der Uhren an der Wand in der Eingangshalle hat er bemalt. Manchmal sindLeute extra mit ihren Uhren angereist, um sich von ihm ein ganz besonderes Motiv malen zu lassen. Ich kann mich an einen Mann erinnern, der wollte sogar seine zwei Jagdhunde auf dem Zifferblatt seiner Standuhr verewigt haben! Ach, ich hab meinem Vater so gern zugeguckt, wenn er mit Pinsel und Palette hantierte. Für mich – ich war ja damals noch ein kleines Kind – war das wie Zauberei, wenn so nach und nach zwischen den langweiligen Ziffern auf einem Uhrblatt eine ganze Landschaft entstand. Schildermaler – das ist heutzutage leider ein ausgestorbener Beruf. Für Vater war das sein Leben, alles andere war nicht so wichtig …« Auf einmal schien Antonia weit weg zu sein.
    Unter niedergeschlagenen Lidern beobachtete Julie die alte Dame. Gerade noch forsch und fröhlich, wirkte Antonia nun, als sei sie von einer tiefen Traurigkeit befallen. Eine seltsame Frau! Julie hätte sie gern gefragt, warum sie ein Leben in der Ferne vorgezogen hatte, statt sich dort oben auf dem Berg mit Mann und Kindern niederzulassen. Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass Antonia eine so intime Frage nicht schätzen würde. Sie schenkte Tee nach, obwohl beide Tassen noch halb voll waren.
    Â»Das ›Kuckucksnest‹ …« Julie ließ das Wort auf ihrer Zunge zergehen. »Heißt es nicht, der Kuckuck legt seine Eier in fremde Nester? Ich meine, das ist doch ein sehr … ungewöhnlicher Name für ein Hotel, oder? Wie kam es dazu?«
    Eigentlich gefiel ihr der Name sehr gut, er passte zu dem ungewöhnlichen Gebäude. Und zur Landschaft. Vielleicht gab es in den umliegenden Wäldern ja besonders viele Kuckucke?
    Â»Ursprünglich wurde das Anwesen Moritzhof genannt. Wie es später zu seinem anderen Namen kam, weiß ich eigentlich auch nicht so genau.« Geistesabwesend zupfte Antonia an den Fransen der Tischdecke.
    Julie winkte ab. »Ist ja auch egal. Jedenfalls habe ich den Ausflug sehr genossen! Sie müssen da oben eine wunderbare Kindheit verbracht haben.«
    Antonia schaute auf. »Wie man’s nimmt … Nun, schlecht ging es mir nicht. Es war ja immer jemand da. Sieglinde, die Hauswirtschafterin, die Zimmermädchen und der Kellner haben mir öfter mal eine Karamelle zugesteckt oder ein Butterbrot. Manchmal, wenn wenig Gäste da waren, hat sich Luis, der Page, sogar dazu erweichen lassen, mit mir Verstecken zu spielen! Und die alte Martha in der Wäschekammer hat mir geholfen, aus der Schmutzwäsche eine Höhle zu bauen, darin hab ich dann selig geschlafen wie ein Lämmchen. Ja, es gab wirklich schöne Momente …«
    Einen Augenblick lang
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