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Anti-Eis

Anti-Eis

Titel: Anti-Eis
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brauchen
würden. Nach zehn Monaten Artilleriebeschuß und
Stellungskrieg hatte sich das Land in einen Ozean aus
aufgewühltem, verkrustetem Schlamm verwandelt; ständig
rutschte ich in Granattrichter, und binnen kurzem waren wir alle von
modrig riechendem Brackwasser durchnäßt. Und überall
stieß ich auf die Trümmer des Krieges: Granatsplitter,
zurückgelassene Ausrüstung, zusammengeschossene
Feldgeschütze… und ein paar Exemplare schauerlicher Natur,
von deren Beschreibung ich, bei allem Respekt, Vater, Abstand nehmen
möchte.
    Doch schließlich erreichten wir Sewastopol; und ich stand
einige Minuten auf einer Anhöhe, von der aus man die Stadt
überblicken konnte.
    Vater, Ihr werdet Euch an meine frühere Beschreibung der
Stadt erinnern, die intakt hinter ihren Mauern gelegen und vor Waffen
nur so gestarrt hatte. Nun, jetzt schien es so, als ob sie von einem
riesigen Stiefel zertreten worden wäre – auf eine andere
Art kann ich es nicht beschreiben. Ein vielleicht eine Viertelmeile
durchmessender Krater bildete jetzt das Zentrum der Stadt, in der
Nähe der Docks; und ich konnte sehen, daß die aufgerissene
Erde noch dampfte, wobei die Felsen und die Schlacke rot
glühten. Und um diesen Krater zog sich ein großer Kreis,
in dem die Wohnhäuser und anderen Gebäude säuberlich
abgetragen worden waren; man konnte noch ihre Grundrisse sehen, als
ob man eine riesige Bauzeichnung betrachtete – obwohl sich hier
und da noch ein verkohlter Kamin oder Mauerrest trotzig in der
Senkrechten hielt. Jenseits dieser Zone schienen die Gebäude
weitgehend intakt geblieben zu sein – Fenster und Dachziegeln
waren indessen fast nicht mehr vorhanden. Und in einigen Vierteln der
Stadt sahen wir große, anscheinend unkontrollierte Feuer
wüten.
    Die massiven Befestigungswälle der Stadt waren durch die
Explosion nach außen gedrückt und in Schutt verwandelt
worden; die Mündungen zertrümmerter Geschütze wiesen
ungerichtet gen Himmel. Und die Redouten waren vernichtet; Russen in
ihren sackartigen Uniformen lagen über dem Schrott ihrer
Kanonen.
    Hinter diesem infernalischen Szenario lag friedlich die blau
glitzernde Bucht; jedoch trieben die Wracks einiger Schiffe mit
gebrochenen Masten im Wasser.
    Einige Minuten lang betrachteten wir mit offenem Mund den
Schauplatz. »Kommt, Kameraden«, sagte der Hauptmann
schließlich, »wir müssen unsere Pflicht
tun.«
    Erneut formierten wir uns. Es wurde ins Horn gestoßen und
eine Trommel gerührt, wobei die Klänge indes völlig
deplaziert wirkten, und wir marschierten über die Ruinen der
Wälle.
    So rückte schließlich, gegen vier Uhr nachmittags, die
britische Armee in Sewastopol ein.
    Zunächst hielten wir unsere Waffen schußbereit und
gingen in guter militärischer Ordnung vor, mit Kundschaftern und
Spähern; aber die einzigen Geräusche wurden durch
knirschendes Glas und Steinbrocken unter unseren Füßen
verursacht, und es war, als ob wir über die Oberfläche des
Mondes wandern würden. Selbst in den Außenbezirken der
Stadt waren die Gebäude allesamt verkohlt und geschwärzt,
und ich dachte an diese fürchterliche Hitze, die vom
Stadtzentrum ausgestrahlt hatte. Wir kamen an einem Haus vorbei, das
so aussah, als ob es aufgeschlitzt worden wäre, so daß wir
die Einrichtung seiner unglücklichen Bewohner sehen konnten. Die
Straßen waren mit zerstörten Wagen aller Art
übersät, wobei noch tote und verwundete Pferde in ihrem
Geschirr gefangen waren.
    Und die Menschen:
    Vater, überall lagen sie, wie sie gefallen waren,
Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen, wobei ihre
Körper verkrümmt und wie Puppen zu Boden geschleudert
worden waren, ihre bäuerliche russische Kleidung war zerrissen,
blutverschmiert und schwelte noch. Irgendwie wirkten die Posen dieser
unglücklichen Körper nicht einmal mehr menschlich, und ich
verspürte nur Übelkeit und ein Gefühl der
Betäubung.
    Dann stießen wir auf unseren ersten lebenden Russen.
    Er schleppte sich durch einen Korridor, der nirgendwohin
führte. Er war ein Soldat – ein Offizier, soviel ich
erkennen konnte – und um mich herum hörte ich das Gemurmel
der Kameraden und sah, wie sie die Arme ausstreckten. Aber dieser
arme Kerl hatte seine Mütze verloren, trug keine Waffe, und er
zog einen Fuß nach, so daß er nur gehen konnte, indem er
sich auf einer Krücke abstützte, die er aus einem
Stück Holz improvisiert hatte. Der Hauptmann befahl uns, die
Waffen zu schultern. Der Kamerad begann, in seiner
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