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Anti-Eis

Anti-Eis

Titel: Anti-Eis
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weiß, wird der alte
Bismarck ebenfalls erscheinen.«
    Ich konnte eine neidische Aufwallung unter den Kollegen an ihren
Schreibtischen spüren. Schulter an Schulter mit Prinz Otto von
Schönhausen Bismarck, dem Eisernen Kanzler von Preußen
– der vor weniger als vier Jahren den Armeen des alten Franz
Joseph von Österreich in nicht einmal zwei Monaten eine verdammt
gute Abreibung verpaßt hatte… Sagte Spiers: »Die
Preußen werden mit der Schwebebahn zur belgischen Küste
reisen und dann mit dem Schnellboot nach Dover. Ihr werdet zum
Begrüßungskomitee gehören, das sie nach der Landung
willkommen heißt.«
    »Sir, warum denn einen solchen Umweg? Die Schwebebahn von
Calais ist doch viel schneller…«
    Er musterte mich düster. »Vicars, jedesmal, wenn ich
glaube, daß wir Euch doch unterschätzen, leistet Ihr Euch
wieder einen Schnitzer. Natürlich wegen der Spannungen zwischen
Preußen und Frankreich, Junge. Lest Ihr denn keine Zeitung?
Sprecht um Gottes willen nicht mit Bismarck darüber, oder Ihr
löst einen neuen verdammten Krieg aus…«
    Und so weiter.
    Auf jeden Fall räumte ich frohgemut meinen Schreibtisch auf
und reiste nach Dover ab. Die preußische Delegation fuhr von
diesem Hafen mit der Schwebebahn nach London; die
Eisenbahngesellschaft hatte einen Waggon bereitgestellt, der eigens
mit dem Wappen des preußischen Königs Wilhelm verziert
war, und Stander mit dem preußischen Adler flatterten an jeder
Ecke des Waggons. Wir müssen ein prächtiges Bild abgegeben
haben, als wir in der Schwebebahn mit fünfzig Meilen pro Stunde
hundert Fuß über der hügeligen Landschaft von Kent
dahinbrausten!
    Die Delegation dinierte in der Kaiserlichen Botschaft am St. James
Square, und eine große Sache war es obendrein. Das Dutzend
Preußen in ihren Gala-Uniformen trug so viele Orden auf der
Brust, daß die Oberkörper schier glänzten, und sie
spreizten sich wie eine Schar alternder Pfauen. Ich war in meinem
neuen Kummerbund der Jüngste unserer Abordnung, gänzlich
undekoriert und mundfaul; als jedoch der Wein und andere Spirituosen
ihre Wirkung entfalteten, schien sich auch mein Geist zu erweitern
und die weiten, geschmückten Räume des Speisesaales Seiner
Exzellenz auszufüllen. Ich spielte mit dem Silberbesteck und
genoß das Aroma eines Branntweins, der schon in Napoleons
Kindertagen eingekellert worden war, und meine Welt aus
tintenbeklecksten Schreibtischen schien so weit entfernt wie der
Mond. Jetzt, so phantasierte ich, wußte ich, warum ich in den
diplomatischen Dienst eingetreten war.
    Im weiteren Verlauf des Abends nahm Bismarck sich persönlich
meiner an. Otto von Bismarck war ein rundlicher, recht
großväterlicher Gentleman; und für ihn war ich
»Herr Vicars, mein geehrter Gast«. Ich lächelte glasig
und suchte nach Gesprächsstoff. Bismarck hatte einen gesunden
Appetit, aber er trank nur faulig riechendes deutsches Bier aus einem
großen, geschlossenen Faß; ich vermutete, daß er
die schlimmsten Bestandteile dieses Gebräus durch seinen
eindrucksvollen Bart filterte. Das Bier, flüsterte Bismarck mir
in seinem holprigen Englisch zu, ließ ihn die Widrigkeiten des
Lebens am Hofe König Wilhelms vergessen und nächtens
einschlafen.
    Am Morgen des achtzehnten standen wir früh auf. Der Kleine
Mond stand noch immer am Morgenhimmel, eine Faust aus Licht, die sich
stetig am Horizont entlangbewegte. Wir nahmen die Schwebebahn von
Euston nach Manchester Piccadilly, und von dort aus fuhren wir in
einem Hansom [i] zum Peel
Park im Norden der Stadt. Gegen Mittag hatten wir uns der Prozession
der Würdenträger angeschlossen, die sich den großen
Portalen der im Park errichteten Kristall-Kathedrale näherte.
Selbst Bismarck, der Koloß Europas, verlor sich als
Durchschnittsgesicht in der Menge; und ich war amüsiert –
und beeindruckt –, als ich bemerkte, daß der runde Kiefer
des Preußen bei der Annäherung an dieses neueste Symbol
britischer Ingenieurskunst herunterklappte.
    Wie der erste Kristallpalast – der im Hyde Park errichtet
worden war, um die Große Ausstellung von 1851 zu beherbergen
–, war die Kathedrale ein von Sir Joseph Paxton entworfenes
Monument aus Eisen und Glas. Dem gotischen Kreuzstil nachempfunden,
erhob sich ihre Fassade über uns, wobei sich die Julisonne grell
in tausend Fensterscheiben spiegelte. Eine Schwebebahn schwang sich
von Osten auf grazilen Pylonen heran und wurde durch ein vielleicht
hundert Fuß über dem Boden befindliches Portal in das
Gebäude geführt.
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