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Anti-Eis

Anti-Eis

Titel: Anti-Eis
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liegenden Artillerie ließ nicht
nach; desgleichen galt für das Feuer der Redouten von
Sewastopol, und eine klamme Furcht beschlich mich. Wenn die
russischen Geschütze nämlich nicht zum Schweigen gebracht
wurden, käme unser Angriff nur einem weiteren
Himmelfahrtskommando gleich. Nochmals, Vater, ich bitte Euch, mich
nicht für einen Feigling zu halten; aber ich hatte – und
habe – nicht das Bestreben, mein Leben billig zu verkaufen, aber
genau darauf schien es in jenem Moment hinauszulaufen.
    Dann verstummten auf einmal die Geschütze hinter uns; und
bald, wie als Antwort, schwiegen auch die Kanonen der Russen. Stille
legte sich über unser Lager, und zusammen mit dem trüben
Licht der Morgendämmerung wirkte die Szenerie so fremdartig,
daß ich zitternd die Arme um mich schlang. Das einzige, was
sich noch bewegte, war der Kleine Mond, der über uns aufging,
eine blendende Leuchtboje, die erneut ihren halbstündigen Lauf
über den Himmel antrat. Ich schaute mich um und suchte Trost in
den Reihen der müden, unsicheren Gesichter um mich herum; aber
da war kein Trost. Es war, als ob wir alle, Infanteristen, Offiziere
und Pferde, uns auf einem weit entfernten, grauen Stern befunden
hätten.
    Ich hielt die Luft an.
    Dann vernahm ich von den hinter mir liegenden alliierten
Stellungen den Donner eines einzigen Feldgeschützes.
    Später erhielt ich von einem befreundeten Artilleristen einen
Bericht über die kurze Zeitspanne, welche diesem einen
Schuß vorausgegangen war. Besagter Kanonier hatte gesehen,
daß der Ingenieur Josiah Traveller sich einer bestimmten
Stellung näherte, wobei er seinen Zylinder bis über beide
Ohren ins Gesicht gezogen hatte. Der Bursche trug dicke
Lederhandschuhe, die nach Aussage meines Reporters der ganzen
Erscheinung einen reichlich komischen Effekt verliehen; und mit
ausgestreckten Armen transportierte er einen großen
Metallbehälter, der mit einer glitzernden Reifschicht
überzogen war, als ob er so kalt wie der Tod wäre. Im
Gefolge von Traveller kamen mit grimmigen Gesichtern sowie
glänzenden Epauletten und Orden Sir James Simpson daselbst und
einige seiner Stabsoffiziere. Der Ingenieur legte den Behälter
vor der Geschützmündung auf den Boden, löste einige
Verriegelungen und riß ihn auf. Wie mein Freund berichtete, war
der Stauraum ziemlich klein; die Wandung des Behälters war
nämlich einige Zoll stark, so daß sie seinen Spekulationen
zufolge eine Substanz enthalten haben könnte, welche die
Temperatur des Behälters unnatürlich niedrig hielt.
    Der Behälter enthielt eine einzige Granate, die, anhand der
Größe zu urteilen, vielleicht ein Zehnpfünder gewesen
sein mochte. Dann nahm der Ingenieur diese Granate so sachte wie ein
Kind heraus und ließ sie vorsichtig in die Mündung des
Feldgeschützes gleiten. Daraufhin trat Traveller
zurück.
    Das Geschütz feuerte mit einem gedämpften Knall, der an
ein Husten erinnerte. Sekunden später beschrieb diese wertvolle
Granate eine gekrümmte Flugbahn über meinen Kopf hinweg und
beförderte einige Unzen Anti-Eis nach Sewastopol.
    Von meiner Position aus konnte ich die Stadt zwar nicht direkt
sehen, aber dennoch schielte ich über die Köpfe meiner
Kameraden, um den Flug der Granate zur beschädigten Festung zu
verfolgen; ich schob sogar die Mütze zurück und beschirmte
die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können.
    Ich habe mich seither etwas mit den Eigenschaften dieser
merkwürdigen Substanz namens ›Anti-Eis‹ vertraut
gemacht, Vater. Sie wird aus einem seltsamen Flöz im gefrorenen
Ozean des Südpols gewonnen, und solange sie bei diesen frostigen
Temperaturen aufbewahrt wird, ist sie völlig ungefährlich.
Wenn sie jedoch erwärmt wird…
    Nun, ich werde dir jetzt beschreiben, was ich sah.
    Die Granate schlug kreischend ein.
    Dann war es, als ob die Sonne die Erde berührt
hätte.
    Der Horizont vor Sewastopol explodierte in einem stummen Meer aus
Licht. Es war ein Licht, das sich in die Haut fraß, so
daß man direkt spüren konnte, wie sich die Haut
abschälte. Ich taumelte zurück, wobei meine Schreie des
Schreckens und Entsetzens mit denen meiner Kameraden verschmolzen.
Ich nahm die Hand von der Stirn und starrte sie an; die versengte und
mit Blasen bedeckte Hand sah aus wie ein grotesk verformtes
Stück Wachs und schien überhaupt kein Teil meines
Körpers mehr zu sein. Dann erreichte der Schmerz meinen
trüben Kopf, und ich schrie gellend auf; dabei spürte ich,
daß meine versengten Wangen aufsprangen und
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