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Anthropofiction

Anthropofiction

Titel: Anthropofiction
Autoren: Leon E.Stover und Harry Harrison
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Renakirema
     
    Feldforschung ist angewiesen auf eine sachliche Außenseiterposition – was der Grund dafür ist, daß Anthropologen in andere Gesellschaften hinausgehen, um heimzukehren und ihre eigene um so besser als fremdartig betrachten zu können. In Das Körperritual der Renakirema betont Horace Miner die vorherrschende Sorge um die Gesundheit in den Vereinigten Staaten, und er tut es von dem überlegenen Standort eines Marsmenschen aus, der zum ersten Mal in unsere Gesellschaft hineinspäht. Die Trennungslinie zwischen Satire und Anthropologie verschwindet. Ist es für Mi ner Satire, darauf hinzuweisen, daß der Amerikaner des zwanzigsten Jahrhunderts an die Ärzte appelliert, da diese Macht über körperliche Schmerzen haben? Wenn ja, ist es dann satirischer, wenn der Historiker auf den Appell der Europäer des vierzehnten Jahrhunderts an die Theologen wegen ihrer Macht über das Schicksal der Seele hinweist?
    Der sachliche Beobachter, nur interessiert an der natürlichen Ordnung der menschlichen Welt und überhaupt nicht an seiner persönlichen Betroffenheit, ist mit Montesquieus Lettres persanes in die westliche Literatur eingetreten. Montesquieu hat als erster die Perspektive des Marsmenschen kultiviert. Er hat die Position eines persischen Prinzen angenommen, eines exotischen Außenseiters für das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, der die französische. Gesellschaft der Zeit mit kühlem Amüsement und unterdrückter Neugier beschreibt. Denselben Trick verlagerter Fundgrubenobjektivität benutzt Horace Miner in Das Körperritual der Renakirema. Er schreibt als ein von weither kommender Anthropologe, der die Verei nigten Staaten besucht, um das Leben dort zu studie ren. Renakirema ist Amerikaner rückwärts buchstabiert, wie andere Wörter in dem Essay ein Kunstgriff, darauf berechnet, den Leser dazu zu bringen, sich selbst als ein fernliegendes Wahrnehmungsobjekt eines krassen Außenseiters zu sehen. In ganz ähnlicher Weise pflegten die Amerikaner China als ein verkehrtes Land zu betrachten, wo alles rückwärts angefangen wurde: Suppe zum Schluß der Mahlzeit, Weiß als Trauerfarbe, Ehrenplatz zur Linken, Schreiben von oben nach unten usw. Den Schluß von Miners Essay bildet ein Verzeichnis von Gewohnheiten, die nutzlos und verächtlich erscheinen müssen, weil sie von einem entfernten Beobachterstandpunkt betrachtet werden. Aber durch diese Art der Satire werden die verborgenen oder unbemerkten Aspekte der eigenen Kultur sichtbar gemacht.
     
    Jedermannoffskismus in Katzenstadt
     
    Satire weist auf Unzufriedenheit mit bestehenden Regelungen hin. Lao Shaw in Mao Ch’eng Chi, woraus Jedermannoffskismus in Katzenstadt entnommen ist, ist unzufrieden mit der Pfuscherei der politischen Führer Chinas nach dem Sturz der Monarchie im Jahre 1911. Der Roman wurde, wie aus einem Brief des Autors hervorgeht, irgendwann zwischen 1930 und 1931 geschrieben.
    Lao Shaw bemängelt, daß die Bemühungen, eine nachrevolutionäre Ordnung zu errichten, auf das eine oder andere ausländische Modell gegründet wurden. Das Experiment, das er in dieser Auswahl angreift, ist eine importierte Version des russischen Kommunis mus, nach dem Terminus »Jedermannoffskismus« oder ta- chiafu-ssu-chi mit seiner (für chinesische Ohren) russisch klingenden Endung fu-ssu-chi für »-offski« zu urteilen.
     
    Die Gefangenen
     
    Unzufriedenheit mit der Gesellschaft ist ein Zugang zur Bewußtwerdung über sie von innen. Diese Art von Objektivität ist, wie Margaret Mead erläutert, wahrscheinlich universell:
     
    Wenn wir die menschliche Kultur als ein System betrachten, das wie die natürliche Sprache umfassend genug sein muß, daß jedes in ihr geborene normale Individuum es erlernen kann, aber niemals eine gleich gute Übereinstimmung mit der konstitutions- und temperamentsbedingten Lebenserfahrung jedes menschlichen Mitglieds erreicht, dann kann man erwarten, daß in jeder menschlichen Kultur der Wunsch nach einem perfekteren Staat auftritt (Mead, 1959:328).
     
    Die Vorstellung der Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Gesellschaft ist durch die wissenschaftliche Revolution wieder verstärkt worden.
    Die Macht der Wissenschaft als Instrument materiellen Fortschritts hat es nahegelegt, daß die Gesellschaft selbst, der diese Macht dient, ebenfalls nach menschlichem Wunsch und Plan geformt werden könnte. Daher in der Science Fiction die Auffassung, daß Wissenschaftler für die Regierung besser ausgestattet sind als
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